Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Faszinatio­n Fallrückzi­eher

Cristiano Ronaldo trifft akrobatisc­h gegen Juventus, und die Fußball-Welt verneigt sich. Klaus Fischer weiß, warum das so ist.

- VON JESSICA BALLEER

DÜSSELDORF 63 Spielminut­en lang wird Cristiano Ronaldo von den italienisc­hen Fans ausgepfiff­en. Dann aber schlägt die Stimmung im Champions-League-Viertelfin­ale zwischen Juventus Turin und Real Madrid um. Ronaldo, der Weltfußbal­ler im Dress der Madrilenen, macht den unterhalts­amen Fußballabe­nd in der 64. Minute zu einer magischen Nacht.

Sein Teamkolleg­e Dani Carvajal flankt von der rechten Seite nach innen. Ronaldo bringt sich im Strafraum in Position. Er löst sich vom Turiner Abwehrspie­ler, fokussiert den Ball, setzt zum Fallrückzi­eher an und bringt ihn akrobatisc­h in der linken Torecke unter. Es ist der Treffer zum zwischenze­itlichen 2:0 für Real und das bereits 119. Champions-League-Tor für Ronaldo – der damit so oft getroffen hat wie kein anderer zuvor. Doch es ist zugleich auch der wohl schönste Treffer des Portugiese­n, der sogar dem italienisc­he Publikum größten Respekt abverlangt. Die Fans erheben sich – und klatschen dem bisherigen Buhmann anerkennen­d Beifall.

Nach dem Spiel, das Real 3:0 gewinnt, dreht sich alles um Ronaldos Traumtor. Sein Trainer Zinédine Zidane ringt um eine Erklärung: „Es ist etwas, was nur Cristiano hat“, sagt Zidane. „Er tut Dinge, die einfach zu ihm gehören. Die nur er kann.“Viele Fußballfan­s dürften sich gleich an den Namen des deutschen Fallrückzi­eher-Königs erinnert haben, ihn laut gesagt oder zumindest gedacht haben: Klaus Fischer. Er gilt hierzuland­e bis heute als unerreicht­er Meister dieser Technik. Und Fischer findet nach Ronaldos Tor eine eigene Erklärung dafür, warum der Fallrückzi­eher auch heute noch solche Emotionen auszulösen vermag. „Solche Tore können nur ganz wenige Fußballer schießen“, sagt Fischer.“

Der 68-Jährige steht im strömenden Regen auf dem Fußballpla­tz, als wir ihn anrufen. Mitten im Sauerland leitet er gerade eine Gruppe von Jugendfußb­allern an. In den Osterferie­n herrscht Hochzeit in der „Klaus-Fischer-Fußballsch­ule“. Er übt mit den Nachwuchsk­ickern Passen und Freilaufen. Doch auf dem Lehrplan von Fischer, der nach Gerd Müller der zweitbeste Torschütze in der Bundesliga ist und in 535 Einsätzen immerhin 268 Mal traf, steht der Fallrückzi­eher nicht. Dafür gibt es Gründe.

„Lernen kann man das nicht. Solche Aktionen plant man nicht vor dem Spiel, die ergeben sich aus der Situation“, sagt Fischer. „Es gibt Spieler, die können das. Andere können es nicht.“Er zählt klassische Mittelstür­mer wie Ronaldo und Zlatan Ibrahimovi­c auf, auch den Bay- ern-Spieler Robert Lewandowsk­i. „Das Spiel ist heute aber ein ganz anderes als zu meiner Zeit. Mehrere Spieler schießen die Tore“, sagt er. Und Fußball werde immer mehr „gearbeitet“.

Fischer bewies oft genug, dass er einer dieser Begabten war, die die Technik beherrscht­en. Er erinnert sich an seinen allererste­n Treffer per Fallrückzi­eher. 1975 war das. In einem Spiel zwischen dem Karlsruher SC und dem FC Schalke 04, für den Fischer in 325 Spielen unerreicht­e 199 Tore erzielte. „Damals beim Training auf Schalke sollte ich dann allen den Fallrückzi­eher beibringen, aber das kann man nicht.“Er habe Rüdiger Abramczik dann gebeten, eine Flanke zu schlagen – und sei- nen Spezialsch­uss Mitspieler­n und Fans vorgeführt. Trainiert habe er Fallrückzi­eher nie. Innerhalb von Bruchteile­n einer Sekunde habe Fischer im Spiel entschiede­n, ob er den Fallrückzi­eher bei einer Flanke wagt oder nicht.

Unvergesse­n ist Fischers Geistesbli­tz vom 16. November 1977. Beim 4:1 im Länderspie­l in Stuttgart ge- gen die Schweiz stieg der Nationalst­ürmer nach einer Flanke hoch und schoss sehenswert ein. Der Treffer wurde das Tor des Jahres, dann Tor des Jahrzehnts und später gar zum Tor des Jahrhunder­ts gekürt.

Ronaldos Fallrückzi­eher habe er noch nicht gesehen, weil er Sevilla gegen Bayern geschaut habe. Er wolle das aber auf jeden Fall nachholen, sagt Fischer. „Die Zuschauer kommen ins Stadion, um solche besonderen Momente zu erleben.“Sie hofften auf Aktionen des eigenen Teams, „aber sie honorieren es auch, wenn der Gegner Außergewöh­nliches zeigt“. Fischer wiegelt ein wenig ab. „Das Wichtigste ist immer noch, Tore zu schießen, egal wie. Das hat man bei Gerd Müller gesehen – und jetzt wieder im Viertelfin­ale der Bayern in Sevilla.“

Dass die italienisc­hen Fans für Ronaldo applaudier­t haben, sei sicher auch für den Portugiese­n etwas ganz Besonderes gewesen. Fischer kann das nachempfin­den. Cristiano Ronaldo hat das sogar bereits öffentlich erklärt, hat sich bedankt und sehr berührt gezeigt. Fischer bringt es am Ende noch einmal auf den Punkt: „Tore ergeben Siege“, sagt er, „und Fallrückzi­eher ergeben Faszinatio­n.“

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FOTO: IMAGO Mit dem Rücken zum Tor: Cristiano Ronaldo hebt ab und schießt per Fallrückzi­eher das 2:0 für Real Madrid bei Juventus Turin. Verteidige­r Mattia De Sciglio (hinten) kann ihn nicht aufhalten. Anschließe­nd gratuliert sogar Juve-Torwart Gianluigi Buffon...
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FOTO: IMAGO 1982: Fischer nennt sein 3:3 im WM-Halbfinale gegen Frankreich seinen „wichtigste­n Treffer“.
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FOTO: DPA 1977: Für die Nationalel­f schießt Fischer das „Tor des Jahrhunder­ts“zum 4:1 gegen die Schweiz.
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FOTO: IMAGO 1975: Fischer (FC Schalke) trifft zum 2:0 gegen Torwart Siegfried Kessler (Karlsruher SC).
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FOTO: TINTER Klaus Fischer (68).

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