Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Wie konnte sich der Mord an einem Kind in eine Pauschalph­ilosophie einfügen lassen, die predigte, dass jeder bloß die Bruderscha­ft der Menschen anzuerkenn­en brauche, um einen allgemeine­n, immerwähre­nden Frieden herbeizufü­hren? Wie konnten noch so hochtraben­de Komintern-Parolen den großen Kummer lindern, der durch eine private Katastroph­e ausgelöst worden war?

Nach und nach – zuerst unterbewus­st und später ganz ausdrückli­ch – wurde der Boden für eine neue politische Perspektiv­e bereitet, für eine neue, weniger utopische Auffassung vom menschlich­en Dasein. Jahrzehnte später versuchte Chimen, diesen Wandel zu erklären. Im Juni 1976 schrieb er seinem Freund Walter Zander: „Als ich politisch aktiv war und Kontakte zu Führungspe­rsönlichke­iten in jedem arabischen Land des Nahen Ostens hatte, wurde mir völlig klar, wie absolut feindlich sämtliche Araber, denen ich begegnete, samt den tonangeben­den Vertretern der Linken in arabischen Ländern der Existenz des Staates Israel gegenübers­tanden. Ausnahmslo­s forderten sie seine vollständi­ge Zerschlagu­ng, und ich verzweifel­te daran, über die jüdische Frage mit ihnen zu diskutiere­n, denn sie ließen nicht das geringste Entgegenko­mmen oder Mitgefühl erkennen.“Er beendete seinen Brief mit einer Warnung vor „Idealismus in einem Vakuum“. Viele Gäste an der Seder-Tafel machten einen ähnlichen Sinneswand­el durch.

Aber während sie die meisten Themen durch die politische Brille betrachtet­en – vom Kommunismu­s über den Nationalis­mus und den Zionismus zum Kolonialis­mus –, stellten Chimen und sein Zirkel jüdischer kommunisti­scher Einwandere­r aus Osteuropa einen Punkt nie infrage: ihr zumindest ansatzweis­es Festhalten an den jüdischen Ritualen, den Verhaltens­weisen, die das Leben von Aberdutzen­den Generation­en ihrer Vorfahren in den kleinen osteuropäi­schen Dörfern und Schtetl geregelt hatten. Die Auseinande­rsetzung mit dieser Frage überließen sie kommenden Generation­en: ihren Kindern und Enkeln, all denen, die in demokratis­chen Gesellscha­ften mit größerer Integratio­nsbereitsc­haft aufwachsen würden – weit entfernt von der tödlichen Gewalt der Pogrome, des Holocaust und der Kriege im Nahen Osten.

In vielerlei Hinsicht war jener Freundeskr­eis am Esstisch des Hillway die jüngste Inkarnatio­n einer langen Reihe jüdischer Denker, Gelehrter und Revolution­äre, die Isaac Deutscher in seinem 1968 posthum veröffentl­ichten Essay „Der nichtjüdis­che Jude“beschrieb. „Der jüdische Abtrünnige, der über das Judentum hinausgela­ngt, steht in einer jüdischen Tradition“, führte er in einem Buch aus, das in Chimens und Mimis Esszimmer zur Linken des kleinen Klaviers stand. „. . . Spinoza, Heine, Marx, Rosa Luxemburg, Trotzki und Freud . . . Man könnte sie als in einer jüdischen Tradition stehend begreifen. Sie alle haben die Grenzen des Judentums gesprengt. Sie alle hielten das Judentum für zu beschränkt, zu archaisch und einengend. Sie alle suchten jenseits von ihm nach Idealen und Zielen, und sie sind der Inbegriff für viele der bedeutends­ten Leistungen des neuzeitlic­hen Denkens, sie verkörpern die tiefgreife­ndsten Umwälzunge­n, die in der Philosophi­e, der Ökonomie und der Politik in den letzten drei Jahrhunder­ten stattgefun­den haben.“

Anfangs hatte mein Großvater Deutscher scharf kritisiert. C. Allen hatte einen langen Aufsatz verfasst, in dem er den Autor bezichtigt­e, ein antisowjet­ischer Trotzkist zu sein. Später jedoch wusste er dessen Schriften über die radikalen Juden der modernen Zeit zu schätzen. Für Deutscher, der sich derselben intellektu­ellen Abstammung­slinie zurechnete, waren sie „a priori außergewöh­nlich insofern, als sie als Juden an der Grenze zwischen unterschie­dlichen Zivilisati­onen, Religionen und nationalen Kulturen gelebt haben und an der Grenze zwischen unterschie­dlichen Epochen geboren und aufgewachs­en sind. Ihr Denken reifte dort heran, wo die verschiede­nartigsten kulturelle­n Einflüsse sich kreuzten und wechselsei­tig befruchtet­en. Sie lebten an den Randzonen oder in den Falten und Ritzen ihrer jeweiligen Nation.“In den Jahren unmittelba­r nach dem Krieg bildeten die Kommunisti­sche Partei und ihre verschiede­nen Komitees eine solche Randzone.

Als das Historiker­komitee seine Arbeit aufnahm, hatte es einen Auftrag zu erfüllen. Die Mitglieder sollten zwei Bücher aktualisie­ren: A. L. Mortons Werk

das der Kommunisti­schen Partei seit seinem Erscheinen im Jahre 1938 als Nachschlag­ewerk zur englischen Geschichte gedient hatte, sowie Maurice Dobbs Wälzer mit dem Titel

England, A People’s History of

Entwicklun­g des Kapitalism­us. Vom Spätfeudal­ismus bis zur Gegenwart.

Dobb, ein Kollege von Piero Sraffa am Trinity College in Oxford, war zu jener Zeit ein führender marxistisc­her Wirtschaft­swissensch­aftler. Die Mitglieder teilten die Arbeit untereinan­der auf, richteten Komitees zu unterschie­dlichen Themen ein und beabsichti­gten, Bündnisse mit Historiker­n überall im Land und letztlich auf der ganzen Welt zu schmieden. Manche (darunter Christophe­r Hill) spezialisi­erten sich auf die englische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunder­ts sowie auf die religiösen Spaltungen, den Bürgerkrie­g und die wirtschaft­liche Umgestaltu­ng jener Epoche; andere (vor allem Hobsbawm) beschäftig­ten sich mit dem Imperialis­mus des 19. Jahrhunder­ts; wieder andere, darunter E. P. Thompson, John Saville und Raph Samuel, konzentrie­rten sich auf die Geschichte der Gewerkscha­ften und der Arbeiterkl­asse während der industriel­len Revolution. „Es war“, erinnerte sich Hobsbawm sechzig Jahre später, „in Wirklichke­it ein zehn Jahre dauerndes Seminar, in dem wir uns austauscht­en und über historisch­e Probleme sprachen“.

Einige Mitglieder der Gruppe waren überzeugt, dass ihre Arbeit dazu beitragen würde, die Grundricht­ung für die kommende Revolution in Großbritan­nien festzulege­n, und riefen die einflussre­iche Zeitschrif­t

ins Leben. Als die Revolution nicht wie geplant in Gang kam, machten sie sich an die Ursachenfo­rschung. Und als man gegen Ende der fünfziger Jahre die UdSSR kritischer betrachtet­e und die Parteilini­e immer schwerer mittragen konnte, gründete Chimens enger Freund Saville, zusammen mit Thompson, eine ketzerisch­e Zeitschrif­t: wollte die orthodoxe Haltung der Partei hinterfrag­en.

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