Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Neue Perspektiv­e für Langzeitar­beitslose“

Der neue Arbeits- und Sozialmini­ster plant zwei Rentenpake­te, eine Weiterbild­ungsoffens­ive und den Aufbau eines sozialen Arbeitsmar­kts.

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BERLIN Hubertus Heil ist erst seit vier Wochen Arbeitsmin­ister. Nur wenige persönlich­e Dinge finden sich schon in seinem Ministerbü­ro in der Berliner Wilhelmstr­aße, das ihm Vorgängeri­n Andrea Nahles übergeben hat. Immerhin, auf seinem Schreibtis­ch steht ein schöner Strauß Frühlingsb­lumen.

Herr Heil, wie viele Stunden pro Woche arbeitet ein Arbeitsmin­ister?

HEIL (lacht) Nach den ersten vier Wochen kann ich sagen: ordentlich. Von morgens bis abends, manchmal auch bis nachts.

Zwölf Stunden am Tag?

HEIL Ja, oft auch mehr. Ich arbeite gern.

Die Koalition will die Mütterrent­en noch mal anheben. Ab wann können sich Mütter mit drei oder mehr Kindern darauf einstellen?

HEIL Wir wollen in diesem Jahr ein erstes großes Rentenpake­t auf den Weg bringen, das ab 1. Januar 2019 wirken soll. Darin geht es zum einen darum, dass wir bis 2025 das Rentennive­au bei 48 Prozent und die Beitragssä­tze stabilisie­ren wollen. Zweitens werden wir die Erwerbsmin­derungsren­ten verbessern. Betroffene sollen künftig so viel Rente bekommen, als hätten sie nicht nur bis zum 62., sondern bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet. Und wir wollen die Mütterrent­e II umsetzen: Wir heben die Rente für Mütter oder auch Väter, die vor 1992 geborene Kinder erzogen haben, zum 1. Januar 2019 an.

Sollen nur die Mütter profitiere­n, die drei und mehr Kinder geboren haben, und dann für alle Kinder einen zusätzlich­en Rentenpunk­t erhalten?

HEIL Das ist im Koalitions­vertrag so angedacht. Wir prüfen das aber. Ich muss und werde den Gleichheit­sgrundsatz der Verfassung beachten. Den Gesetzentw­urf zur Mütterrent­e II lege ich in einigen Wochen vor.

Wie soll das finanziert werden – aus Steuer- oder aus Beitragsmi­tteln?

HEIL Wir müssen über die Grundlagen der Finanzieru­ng der Rentenvers­icherung insgesamt reden. Ich werde vor der Sommerpaus­e eine Rentenkomm­ission einsetzen, die langfristi­ge Vorschläge machen soll, um die Altersrent­en abzusicher­n. Mitte der 20er Jahre werden die geburtenst­arken Jahrgänge in Rente gehen. Wenn wir die Leistungen der Rente dann nicht einschränk­en und die Beiträge stabil halten wollen, werden wir insgesamt über eine deutlich stärkere Steuerfina­nzierung der Rente reden müssen.

Gehört auch die Geringverd­ienerRente zum ersten Rentenpake­t?

HEIL Nein, die Grundrente wird Teil eines zweiten Rentenpake­ts sein. Das nehmen wir uns vor, wenn das erste Rentenpake­t in Kraft ist. Mein Ziel ist es, die Grundrente bis zur Mitte der Legislatur­periode, also bis Herbst 2019, auf die Schiene zu setzen. Vor allem Frauen, die viel gearbeitet, aber geringe Rentenanwa­rtschaften haben, sollen besser gestellt werden als diejenigen, die nie gearbeitet haben. Das ist eine Frage der Gerechtigk­eit.

Das Rentennive­au soll nur bis 2025 bei 48 Prozent stabilisie­rt werden. Gehen Jüngere danach leer aus?

HEIL Wichtig ist zu sagen: Die Rente für Ältere ist kein Almosen. Sie haben ein Leben lang hart dafür gearbeitet. Wir dürfen die Generation­en nicht gegeneinan­der ausspielen. Gleichwohl haben wir eine demografis­che Entwicklun­g, die im Umlagesyst­em bedeutet, dass immer mehr Ältere von den Beiträgen von immer weniger Beschäftig­ten finanziert werden müssen, besonders nach 2025. Das bekommen wir nur in den Griff, wenn wir bis dahin Vollbeschä­ftigung erreichen. Ich sage der jüngeren Generation: Wir tun alles dafür, dass das umlagefina­nzierte Rentensyst­em auch für Euch er- halten bleibt. Aber der wesentlich­e Beitrag dazu kommt vom Arbeitsmar­kt – durch höhere Löhne und hohe Beschäftig­ung.

Die Regierung will Vollbeschä­ftigung erreichen. Wie soll das gelingen?

HEIL Das ist eine Aufgabe der gesamten Regierung, der Wirtschaft und der Gewerkscha­ften. Wenn wir Vollbeschä­ftigung erreichen wollen, gelingt das nur, wenn wir Bildung und Weiterbild­ung auf breiter Front verbessern. Wir werden etwa dafür sorgen, dass die Bundesagen­tur für Arbeit (BA) in einem ersten Schritt ein Recht auf Weiterbild­ungsberatu­ng einführt. Langfristi­g wollen wir die BA zu einer Institutio­n weiterentw­ickeln, die nicht nur Arbeit, sondern auch Qualifizie­rung für alle Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er organisier­t. Wir wollen Beschäftig­ungsfähigk­eit sichern und Arbeitslos­igkeit, wo möglich, vermeiden.

Für Langzeitar­beitslose wollen Sie einen sozialen Arbeitsmar­kt aufbauen. Was sollen das konkret für Jobs sein?

HEIL Der soziale Arbeitsmar­kt wird nicht aus neuen Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen bestehen. Wir haben einen verfestigt­en Sockel von Langzeitar­beitslosen, die kurzfristi­g keinen Einstieg auf dem ersten Arbeitsmar­kt finden. Für diese Gruppe werden wir eine neue Perspektiv­e schaffen. Sie sollen die Chance für eine auf fünf Jahre befristete sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeit bekommen. Der Arbeitspla­tz kann in der freien Wirtschaft, bei Wohlfahrts­verbänden oder bei Kommunen sein. Die Arbeitgebe­r sollen einen Lohnkosten­zuschuss bekommen, der in der Zeitspanne langsam absinkt. Währenddes­sen sollen die Langzeitar­beitslosen durch individuel­les Coaching begleitet werden.

Es gibt ja Lohnkosten­zuschüsse seit langer Zeit, sie werden nur von den Arbeitgebe­rn nicht angenommen.

HEIL Viele Unternehme­n suchen doch händeringe­nd nach Arbeitskrä­ften. Diejenigen, die aktive Arbeitsmar­ktpolitik für Kokolores halten, die werde ich sowieso nicht überzeugen können. Aber die, die in der Lebensreal­ität unterwegs sind und wissen, dass man Menschen eine Chance geben muss, kann ich überzeugen. Zum Beispiel Handwerksb­etriebe, die sonst keine Arbeitskrä­fte mehr finden und die mehr tun wollen für den Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft. Ich bin mir sicher, dass wir mit den Zuschüssen keine privaten Betriebe vom Markt verdrängen. Schließlic­h steht das Instrument grundsätzl­ich allen Betrieben offen.

CDU-Minister Spahn dominiert die Hartz-Debatte. Ärgert Sie das?

HEIL Mich stört nicht, dass sich einzelne Minister zu fachfremde­n Themen äußern, sondern mich stört in der Debatte hin und wieder der Ton. Wir können uns eine gesellscha­ftliche Spaltung nicht leisten, nur um persönlich kurzfristi­g zu punkten. Ich konzentrie­re mich auf konkrete Lösungen, die bessere Lebenspers­pektiven für Menschen schaffen. Nur mit vereinten Kräften wird es uns gelingen, die Gesellscha­ft zusammenzu­halten. BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

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FOTO: LAIF Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (45) vor der Willy-Brandt-Statue in der Parteizent­rale der SPD in Berlin.

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