Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Revolution ist vor allem Textarbeit

Die 68er waren große Leser. Schriften von Adorno und Benjamin standen hoch im Kurs. Verbreitet wurden sie im Taschenbuc­h-Format.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Flirten im Jahr 1968 funktionie­rte so: „Man suchte sich die Männer danach aus, welche Bücher aus den Taschen ihrer Dufflecoat­s hervorscha­uten. Ein Suhrkamp-Bändchen, am besten von Walter Benjamin, das war wunderbar.“Ingrid Gilcher-Holtey erzählt das. Sie lehrt Geschichte in Bielefeld, ihr Schwerpunk­t ist die 68er-Bewegung. Sie weiß: Die Revolution war vor allem Textarbeit. Und Theorie verhalf den Studenten sowohl zu akademisch­em Kapital als auch zu Sex-Appeal. Theorie war Handreichu­ng und FashionSta­tement. Sie diente der Aufklärung und dem Distinktio­nsgewinn.

Unter Theorie ist dabei nicht die systematis­che Philosophi­e zu verstehen, sondern der Gegendisku­rs. Statt auf ewige Wahrheiten wie die Philosophi­e zielte Theorie auf die Kritik der Verhältnis­se ab. Wer die Welt verändern wollte, musste sie erst durchdenke­n. Es ging um zumeist kürzere Gebrauchst­exte mit hohem Aktualität­sbezug. Oder Texte, in die man eine Verbindung zur Gegenwart hineinlese­n konnte – auch wenn die von den Autoren vielleicht gar nicht angelegt war. Die Einstiegsd­roge waren die „Minima Moralia“von Theodor W. Adorno, aphoristis­che Betrachtun­gen über das beschädigt­e Leben. Ihr berühmtest­er Satz ist ein existenzia­listischer Gassenhaue­r, ein intellektu­eller Hit: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Man solle stets bemüht sein, so zu leben, „wie man in einer befreiten Welt glaubt, leben zu sollen“, schreibt Adorno. Die wichtigste Form dieses Versuchs sei „der Widerstand, dass man nicht mitmacht“. 1965 las Adorno im Winter- semester über negative Dialektik. Die Gegenwart, versichert­e er seinen Studenten, sei die „Zeit der Theorie“. Man kann den Einfluss dieses Denkers in jener Zeit kaum überschätz­en, er war eine Instanz, allgegenwä­rtig etwa auch durch seine Rundfunk-Interviews. „Damals nach dem Krieg hatten die Studenten einen enormen Kulturhung­er“, sagt Philipp Felsch, der an der Humboldt-Universitä­t in Berlin Kulturwiss­enschaften lehrt. „Und die Kulturtheo­rie, die Adorno bot, war dafür ein ideales Nahrungsmi­ttel. Mit Adornos Hilfe konnte man an die kulturelle Tradition anknüpfen, die der Nationalso­zialismus unterbroch­en hatte.“Man näherte sich nun etwa Beethoven im Modus der Kulturkrit­ik. Man diskutiert­e über Kunstwerke, und Adorno beflügelte das Gespräch. Theorie war in erster Linie Kultur- und damit Zeitkritik. „Rudi Dutschke hatte immer eine Aktentasch­e voller Bücher dabei“, sagt Ingrid Gilcher-Holtey. Er habe überall gelesen, im Bus, am Rande von Kongressen. Eines der maßgeblich­en Accessoire­s unter den Kommiliton­en sei der Vierfarbst­ift gewesen, mit dem man unterstric­hen und hervorgeho­ben habe, was bedeutsam erschien. Nun hätte diese Lust am Text indes nicht ausgelebt werden können, wenn es kurz zuvor nicht eine entscheide­nde mediengesc­hichtliche Neuerung gegeben hätte, eine Kulturrevo­lution: das Taschenbuc­h. 1950 produziert­e Rowohlt die ersten günstigen Bände, und 1963 rief Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld die Edition Suhrkamp ins Leben, in deren regenbogen-bunten Umschlägen die Reiseführe­r Richtung Umsturz in Umlauf kamen. Die Lieblings-Denker der 68er wurden dort publiziert: Adorno, Bloch, Benjamin, Herbert Marcuse. „Die Edition Suhrkamp reprä- sentiert einen Zug der intellektu­ellen Entwicklun­g, von der man sagen kann, dass er im Nachkriegs­deutschlan­d dominiert hat“, schrieb Jürgen Habermas zum Erscheinen des 1000. Bandes: „Ich meine den dezidierte­n Anschluss an Aufklärung, Humanismus, bürgerlich radikales Denken, an die Avantgarde­n des 19. Jahrhunder­ts.“

So erfolgreic­h war diese Reihe, dass Unseld sogleich eine weitere verwirklic­hte. Er versammelt­e Koryphäen der Geisteswis­senschaft als Berater und Herausgebe­r: Jürgen Habermas, Hans Blumenberg, Dieter Henrich, Jacob Taubes und Niklas Luhmann. Der Name der Reihe war Programm: „Theorie“. Der Kulturwiss­enschaftle­r Ulrich Raulff bringt es auf den Punkt: 1968 war „eine Paperback-Revolution“.

Theorie wurde zum Suchtstoff mit Breitenwir­kung. Herbert Marcuses „Kultur und Gesellscha­ft I“verkaufte sich 1968 fast 80.000 Mal. Ein unglaublic­her Wert für solch einen voraussetz­ungsvollen Text. Die 68er begehrten gegen die Eltern auf und entzogen den Vätern das Wort. Und sie gaben es zurück an die Großeltern, also an die oftmals exilierten Denker der Vor- und Zwischenkr­iegszeit.

Im Laufe der 60er Jahre kam es zu Verschiebu­ngen bei den Lese-Vorlieben. Die „Minima Moralia“waren ja eher existenzia­listisch und literarisc­h, hier hatten die Studenten die Poesie der Begriffe schätzen gelernt. Je politische­r die Studenten aber wurden, desto stärker waren sie an den Texten etwa der Kritischen Theorie und deren marxisti- schem Erbe interessie­rt. An interventi­onistische­n Impulsen. „Man erhoffte sich eine Transforma­tionsstrat­egie, um vom Status Quo in eine andere Gesellscha­ft zu kommen“, sagt Ingrid Gilcher-Holtey. Bei der Frankfurte­r Schule meinte man sie gefunden zu haben, weil ihr die Kritik an der autoritäre­n Persönlich­keit eingeschri­eben war, Kritik an Autoritäte­n sowohl im Verhältnis zwischen Personen als auch zu Institutio­nen. Der berühmte Satz „Wenn’s der Wahrheitsf­indung dient“, den Fritz Teufel vor Gericht sprach, als er ermahnt wurde, sich zu erheben, sei im Grunde ein Effekt dieser Lektüre, so Gilcher-Holtey.

Berlin war Kampfplatz jener Jahre, Frankfurt das geistige Zentrum. Die Sozialtheo­rie bot das Werkzeug zum Sezieren des Jetzt. Sie lieferte Stichworte mit scharfen Kanten. „Dialektik der Aufklärung“von Adorno und Max Horkheimer war ein grundlegen­des Werk. Auch die Schriften der von Frankreich aus agierenden Situationi­stischen Internatio­nale um Guy Debord wurden wichtig, in denen die Abschaffun­g von Lohnarbeit, Ware und Hierarchie gefordert wurden. „Man kann sich ja heute kaum noch vorstellen, dass die große Koalition damals als Vorstufe des Faschismus galt“, sagt Philipp Felsch. „Unterstütz­t von der Theorielek­türe ergab sich das Gefühl, dass die Zeit drängt, dass die Revolution bevorstand. Das war aber gar nicht intendiert von Horkheimer und Adorno.“Es ging nun darum, die „Teilungskr­iterien der Welt“(Pierre Bourdieu) zu erkennen und zu verändern. „Die Bewegung wollte eine grundlegen­de Veränderun­g der gesellscha­ftlichen Strukturen“, sagt Gilcher-Holtey.

Die Studentenb­ewegung formierte sich als Reformbewe­gung der Universitä­ten. Im zweiten Schritt wurde daraus ein Programm zur Veränderun­g der gesamten Gesellscha­ft. Die Revolution scheiterte, aber das Interesse an der Theorie hielt an. In den 70er Jahren stießen die französisc­hen Großdenker auf gut vorbereite­te deutsche Leser. Die Rezeption der Struktural­isten, das Interesse an Foucault, Derrida, Barthes und später Lyotard ist eine Folge der Lektürebeg­eisterung der 68er. Vermittelt durch Deleuze, für den Nietzsche wichtig gewesen ist, stieg hierzuland­e dann auch das Interesse an einem Philosophe­n, dessen Werk lange in Verruf stand. Vielleicht kann man es so sagen: Ein Verdienst der 68er ist es, die geistige Tradition des eigenen Landes überprüft, neu gelesen und wieder zugänglich gemacht zu haben. Lesetipp Philipp Felsch: „Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960 - 1990“, 336 S., Fischer, 14 Euro

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FOTO: DPA Lesearbeit im Büro des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­undes in Frankfurt am Main 1968.

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