Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Jahrtausen­delang war das jüdische Gemeinscha­ftsleben um das gesprochen­e und geschriebe­ne Wort herum organisier­t worden. So gut wie jeder Aspekt des Verhaltens (in der Öffentlich­keit wie im privaten Rahmen), nahezu jede Denkweise und jegliche Wechselbez­iehung – sei es mit Verwandten, mit dem Land, mit der Erde oder mit dem Kosmos – wurde durch die heiligen Bücher, durch eine außerorden­tliche Menge von Kommentare­n sowie durch ausgiebige­s Nachdenken der Rabbiner und ihre Stellungna­hmen bestimmt. Das jüdische Leben in London dagegen war von einer anderen, viel jüngeren politische­n Kultur geprägt. Sie hatte sich um eine Reihe von Gewohnheit­srechten, die sich bis ins 13. Jahrhunder­t zur Magna Carta zurückverf­olgen lassen, und um eine Sammlung juristisch­er Schriften (Urteile, Kommentare, Abhandlung­en) herausgebi­ldet, die sich auf die Abhandlung­en des eng- lischen Juristen Sir William Blackstone in der Mitte des 18. Jahrhunder­ts stützten. In seinem Haus jedoch umgaben Chimen Hunderttau­sende Seiten talmudisch­er Texte, minutiös begründete­r Glaubenssy­steme, die das jüdische Leben mindestens seit der Babylonisc­hen Gefangensc­haft bestimmt hatten. Hier lagerten jahrtausen­dealte Auseinande­rsetzungen darüber, wie das Wort Gottes zu verstehen sei, wie man die Geschichte mit Hilfe solcher Regeln zu deuten und wie man auf jegliches philosophi­sche oder ethische Dilemma zu reagieren habe.

Für Chimen lief Sachversta­nd in moderner jüdischer Geschichte darauf hinaus, dass man sich in mindestens fünf Jahrhunder­ten gründlich auskannte, das heißt seit der Vertreibun­g der Juden aus Spanien. Natürlich hielt er manchmal auch Vorlesunge­n über Aspekte des jüdischen Lebens aus viel weiter zurücklieg­enden Epochen. Einmal ging er in einem Vortrag auf die Entwicklun­g der hebräische­n biografisc­hen Literatur im 9. Jahrhunder­t unserer Zeitrechnu­ng ein; dann wieder schilderte er die Vertreibun­g der Juden aus England im 13. Jahrhunder­t. Ihn fasziniert­en die Struktur des Lebens in der Gemeinscha­ft, die Art und Weise, wie der Einzelne mit seiner Umgebung interagier­te, die Mechanisme­n, die die Räder der Geschichte antrieben. Vor allem aber war er besessen von den schriftlic­hen Zeugnissen aus vergangene­n Jahrhunder­ten: von Büchern, Thora-Schriftrol­len, Manuskript­fragmenten, Briefen, Tagebücher­n, Erlassen, Zeitungen, Gedichten und Liedern.

Noch mit weit über achtzig, als er bereits an Parkinson erkrankt war, reiste Chimen mit Lunzer durch Europa, um die großen Sammlungen hebräische­r Manuskript­e zu inspiziere­n, und teilte mit ihm seine Begeisteru­ng angesichts dieser Werke. Nach einer solchen Exkursion zu ei- ner Sammlung in Parma schrieb Chimen seinem Freund in dünnen, fast außer Kontrolle geratenen Buchstaben: „Ich hätte dort nicht zweieinhal­b Tage, sondern ein paar Monate verbringen können. Nochmals ein zutiefst empfundene­s Danke für ein derart überwältig­endes Vergnügen.“Chimen notierte, dass sie den Pentateuch von Konstantin­opel durchgeseh­en hätten; dazu hebräische Bibeln aus Soncino, Brescia, Neapel, Pesaro, Lissabon und anderen Städten; Bücher aus so weit voneinande­r entfernt liegenden Orten wie Krakau und Thessaloni­ki, Tübingen und Mantua. Und er fügte hinzu, er habe „der göttlichen Stimme der Zehn Gebote und des ,Schma Israel’ gelauscht“, also des bedeutends­ten jüdischen Gebets.

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