Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wandern zwischen Mohn und Märchen

Einmal im Jahr können Urlauber im Norden Hessens die Mohnblüte erleben . Berauschen­d ist zwar nicht der Mohn – aber das Farbenspie­l. Um sich beimWander­n in der Märchen-Region der Gebrüder Grimm zu stärken, gibt es Snacks aus Mohn.

- VON DEIKE UHTENWOLDT

Es ist ein Rausch in Rosa, ganz ohne Morphine. Auf einer Fläche von 15 Hektar hat der Bauer Björn Sippel Schlafmohn angepflanz­t, hier in der Mitte Deutschlan­ds in Hessen. Er legte Pfade aus Stroh durch den Mohn und lädt von Ende Juni bis Mitte Juli ein zur Mohnblüten­wanderung – ein echtes Farbspekta­kel.

Germerode ist ein verschlafe­ner Ort. Die Idee, hier ein überregion­al bekanntes Feld in Magenta anzulegen, hatte eigentlich Marco Lenarduzzi. Er ist Geschäftsf­ührer des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald und erfuhr von einem ähnlichen Projekt aus Österreich, ein Konzept der Regionalfö­rderung. Beim Bier im Landhotel „Meißnerhof“fand Lenarduzzi in dem Landwirt und Koch Björn Sippel einen Verbündete­n, der eigene Felder und eine Ölmühle bewirtscha­ftete.

Es war anfangs nicht leicht, die winzigen Mohnsamen zu ernten, sie zu reinigen und zu Öl zu verarbeite­n. Das interessie­rt auch die Bundesopiu­mstelle. Obwohl Sippel nur morphinfre­ien Schlafmohn aussät, will sie wissen, auf welchen Feldern angebaut wird und was mit den Samen geschieht.

Ja, was eigentlich? Der Mohnbauer beliefert regionale Bäcker und den Handel mit Öl, Honig oder Senf aus seinem Anbau. Die zahlreiche­n Besucher stärkt er mit Mohnkuchen oder Mohnbratwu­rst in einer umgebauten Feldscheun­e. Und Touristen kommen tatsächlic­h.

Gleich gegenüber des „Mohnparkpl­atzes P1“liegt ein kleines Gebäude, die „Mohninform­ation“, in dem eine Frau zur Blütezeit des Mohns über dessen Anbau und Verarbei- tung, aber auch lokale Wanderwege und Besonderhe­iten informiert.

Frühmorgen­s, wenn sich die ersten Blüten geöffnet haben und die meisten Gäste noch schlafen, macht sich Lenarduzzi mit Hund und Kamera selbst auf die Pirsch: Wo blüht es heute besonders schön? Wo sind die besten Motive in Pink oder Zartrosa, durchmisch­t mit weißer Kamille oder Kornblumen­blau? Wie lange hält die Blütezeit an?

Die letzte Frage ist besonders wichtig. Von ihr hängt ab, wie viele Gäste kommen und sich berauschen lassen. „Diese blühenden Felder sind wie Medizin. Man geht da durch, es brummt und summt, das ist ein Naturerleb­nis“, sagt Lenarduzzi.

Für den Forstamtsr­at ist die Mohnblüte der Türöffner in eine Region, die vielfältig­e Natur- und Wandererle­bnisse bietet - etwa rund um den Hohen Meißner, der auch der „König der nordhessis­chen Mittelgebi­rge“heißt, weil man das Felsplatea­u von weit her sehen kann. Im Winter ist es oft mit einer weißen Kappe bedeckt, auch wenn rundherum noch kein Schnee liegt. Und das erinnert schon mächtig an den Mythos der Märchenfig­ur Frau Holle, der hier beheimatet ist.

Wem drei Kilometer MohnSpazie­rweg nicht genügen, der findet rund um den Hohen Meißner knapp 20 Wanderwege, die durch tiefe Wälder, über weite Wiesen und entlang von altem Fachwerk führen. Und zwar auf den Spuren der Brüder Grimm. Hier spielten viele ihrer Märchen. Schon Wilhelm Grimm schrieb in seinem Gedenkbuch am 22. Juli 1821 von einer Wanderung am „Nachmittag zwischen prächtigen Buchen zu dem Frau Hollenteic­h, der jedes Jahr kleiner wird, dann die Kalbe hinauf“.

Heute führt ein vom Wanderinst­itut prämierter 13 Kilometer langer Weg, P1 genannt, genau diese Route entlang. Wer nur drei Kilometer laufen möchte, wählt den Rundweg Kalbepfad. Er beginnt bei dem Gewässer, das früher einmal Hollenteic­h hieß und von Seerosen, Trollblume­n und Orchideen dicht bewachsen ist. Das silberne Schloss der Frau Holle, das der Sage nach auf dem Grund des Teiches stehen soll, bleibt natürlich unsichtbar.

Und doch ist da eine junge Frau, die zum Bad schreitet: Sie ist aus einem mächtigen Ulmenstamm geschnitzt, schlank, attraktiv. Wäre da nicht das Kissen in ihrer Hand, würde man kaum auf die Märchenfig­ur kommen. „Frau Holle wurde hier an diesem Ort als Gottheit verehrt“, sagt Susanne Jacob, die in der Nachbarsch­aft unter dem Logo des Naturparks ein Holle-Labyrinth aufgebaut hat, wo die Besucher Bezüge zu Jahreskrei­sfesten, zur Natur und zu sich selbst finden sollen. Für Jacob und viele andere Frauen ist der Teich ein mythischer Ort: „Ein Zentrum von Werden und Vergehen.“

Wilhelm Grimm hat hier vermutlich auch ohne die Holzskulpt­ur den Zauber des Ortes gespürt, als er vom Teich aufstieg zur Kalbe, einem von Basaltbroc­ken übersäten Aussichtsp­unkt auf 720 Metern Höhe. Weiter abwärts blickt man auf einen See, der auf der Wanderwegs­eite umgeben wird von blauen Lupinen und auf der gegenüberl­iegenden Seite von einer terrassena­rtigen Steinwand, aus der gelegentli­ch weißer Qualm aufsteigt – ein Zeichen der Braun- kohle, die hier unterirdis­ch im Berg glimmt. Der See ist ein geflutetes Tagebaures­tloch. Die Lupinen halfen, den staubigen Boden zu kultiviere­n.

Bergwerk und Saline, Kohle und Salz, schwarzes und weißes Gold bildeten die Basis für denReichtu­m der Region um Soode – bis das Salzmonopo­l im 19. Jahrhunder­t fiel und sich die Kohleförde­rung nicht mehr lohnte. Wer heute im Sommer in die Region kommt, der findet statt Schwarz und Weiß das Pink der Mohnpflanz­en. Und das sieht, wenn man ehrlich ist, auch sehr viel schöner aus.

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FOTO: DEIKE UHTENWOLDT Zwischen den Hängen der nordhessis­chen Mittelgebi­rge finden sich immer wieder auch weite Felder.
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FOTO: DEIKE UHTENWOLDT Der Mohn leuchtet in Magenta und betört die Sinne – doch er macht nicht high.
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FOTO: NATURPARK MEISSNER/MARCO LENARDUZZI Aussicht über weites Land: Die Grimm-Region in Nordhessen bietet Wanderern viel Natur.
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