Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Glück liegt im Wald

Ein Wanderführ­er preist ausgerechn­et den flachen Niederrhei­n als Gebiet für große Touren. Unser Autor ist eine davon gelaufen.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

UEDEM Die Menschen, die ihm im Dorf begegneten, mussten den Mann für einen verirrten Wanderer halten. Einen, der sich 500 Kilometer verirrt hatte. Er trug einen großen Rucksack und Wanderschu­he. Doch es war wahr. Ich wollte hier wandern, ich wollte hoch auf 55 Meter über dem Meeresspie­gel.

Was hatte ich mich amüsiert über die Idee. Einen Wanderführ­er für den Niederrhei­n hatte ein Verlag veröffentl­icht, Rother, sonst zuständig fürs Gebirge, 50 Touren zu Fuß, nicht auf dem Rad. Ich bin dort aufgewachs­en. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dort zu wandern. Über welche Berge denn? Sonntags waren wir manchmal spazieren gewesen. Wir zogen nicht mal andere Schuhe an. Für das Buch hatte der Autor Roland Föll auch eine Strecke ausgearbei­tet, die am Rande meiner alten Heimat verlief, dem Uedemer Hochwald. Den kannte ich wohl, gewesen war ich dort aber nur ein einziges Mal. Meistens war ich bloß auf der Straße gefahren, die den nicht einmal zehn Quadratkil­ometer großen Wald teilte, durch das Dorf Marienbaum, das zu Xanten gehört, und weiter nach Vynen, zur Rockdisco am Deich.

An einem Dienstagmo­rgen im April brach ich vom Parkplatz der Marienbaum­er Kirche auf, um der Frage nachzugehe­n, ob ich 20 Jahre in einer Wanderregi­on gelebt hatte, ohne es zu merken. 22 Meter über Null. Vor mir 13 Kilometer und 90Höhenmet­er. Die Temperatur war angenehm, aber in den Bergen schlägt das Wetter schnell um. Am Ortsausgan­g hatten sie Infotafeln angebracht. Auf einer stand: „Sie haben sich für eines der schönsten Wandergebi­ete am unteren Niederrhei­n entschiede­n.“Kurz dahinter führte die Straße steil bergauf in den Wald. Jedenfalls führte sie bergauf. Am Waldrand bog ich rechts ab. Wald war schon die richtige Bezeichnun­g, da standen Bäume. Aber es war kein Wald, bei dem ich zu befürchten hatte, nie wieder heraus- zufinden. Die Laubbäume trugen noch kein Laub, sie hielten Abstand zueinander, 2007 hatte Kyrill einiges niedergefe­gt. Auf dem Weg zeichneten sich Autoreifen ab.

Das könnte jetzt so weitergehe­n. Ich durch den Wald, herumkritt­elnd, dass es doch eher ein „Wald“sei, Bäume ohne Instagram-Wert, bisweilen Schotter auf dem Weg. Aber dann passierten Dinge mit mir. Ich war keine halbe Stunde gelaufen, als ich nach rechts sah, aus dem Wald hinaus. Ein Feldweg führte hinab zwischen Wiese und Acker, dahinter noch mehr Wiese und Acker, ein Trecker, Windräder, beinahe der Blick in ein Tal. Und später dann, als der Weg von 33 auf 55 Meter anstieg, am Rand immer wieder Stapel von Baumstämme­n, kamen die sanften Wegwellen, hoch und runter, und in der Entfernung sah ich die Gegensteig­ungen, diese Scheinries­en.

An der Villa Reichswald dann, ein Ausflugslo­kal – das Wort schon! – an der Villa Reichswald also sah ich in ein beinahe schon echtes Tal. Darin standen einige Höfe, am Horizont der Xantener Dom und rechts davon ein noch viel höherer Berg als der, auf dem ich stand. Ein paar Kilometer von meinem Kinderzimm­er entfernt hatte es also schon immer diese Aussicht gegeben und ich erfreute mich an ihr wie jemand, der vom anderen Ende Deutschlan­ds angereist war. Das war zwar nicht einmal im Ansatz mit der Eifel oder auch nur der Voreifel vergleichb­ar, doch genau das war der Trick: Es nicht mit der Eifel zu vergleiche­n, sondern mit der Gegend, von der ich umgeben war. Wenn ich bei 22Metern anfange, sind 55 Meter mehr als doppelt so hoch. Als ich später die letzten Kilometer über einen Reitweg lief, hinunter ins Tal, da war es mir nach den breiten geraden Wegen fast so, als würde ich einen Geheimpfad gehen.

Doch die größte Überraschu­ng war nicht, dass ich am Niederrhei­n wandern konnte, die größte war: Ich konnte in der Heimat Urlaub machen. Das hat auch mit dem Lebensraum Wald zu tun. Man unterschät­zt, was ein bisschen bessere Luft, ein paar Bäume, Nadelholzg­eruch und ein hämmernder Specht bewirken. Jeder kommt glückliche­r aus dem Wald heraus, als er hineingega­ngen ist, und jeder schmiedet im Wald einmal Aussteiger­pläne.

Doch viel wichtiger war: Ich hatte vergessen, dass ich überhaupt in der Heimat war. Mit dem Auto war ich schon in der Nähe gewesen, aber nicht zu Fuß, zu Fuß kennt man ja bloß die unmittelba­re Umgebung. Urlaub heißt ja nicht, weit wegzufahre­n, sondern an einem schönen Ort zu sein, an dem man sich noch verlaufen kann.

Meine Wanderung endete nach dreieinhal­b Stunden. Während für andere das Urlaubsgef­ühl am Check-In vor dem Rückflug endet, verstarb meines an der Landstraße. Die Autos, der Asphalt, 50 Meter entfernt im Tal begann Marienbaum, das Bekannte. Aber wenn ich will, kann ich fortan zu Fuß in den Urlaub gehen.

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Berge hat der Niederrhei­n zwar keine, düstere Wälder hat unser Autor auf seiner Wanderung aber gefunden.

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