Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

An Nahles scheiden sich die Genossen

Die SPD-Spitze versammelt sich hinter Andrea Nahles als wahrschein­lich erster Parteichef­in. Führende Mitglieder wie Vize Natascha Kohnen loben die Frau aus der Eifel. Der Kabarettis­t Jens Singer hält hingegen gar nichts von ihr. Er trat jüngst ihretwegen

-

Schon am Wahlabend Ende September wurde allen in der SPD klar, dass Andrea Nahles künftig eine wichtigere Rolle in der Partei spielen würde. Sie stand in der ersten Reihe neben Martin Schulz und klatschte, als der gerade gescheiter­te Kanzlerkan­didat vor jubelnden Genossen verkündete, dass man nun in die Opposition gehen werde. Einen Tag später schlug Schulz die bisherige Ministerin offiziell als künftige Fraktionsc­hefin vor. Unabhängig von der großen Wende hin zur erneuten Koalition mit der Union war klar: Die SPD soll jünger und weiblicher werden. Nahles, 47 Jahre alt und seit ihrem 18. Lebensjahr Genossin, passte da gut ins Bild.

Für viele in der Parteiführ­ung wird sie zur richtigen Zeit zur mächtigste­n Person in der SPD – vorausgese­tzt, die Delegierte­n wählen wie erwartet sie – und nicht ihre Gegenkandi­datin Simone Lange aus Flensburg. SPD-Vizechefin Natascha Kohnen, die den Landesverb­and Bayern führt, lobt die Frau aus der rheinland-pfälzische­n Provinz. „Mit Andrea Nahles stellt sich am kommenden Wochenende erstmalig eine Frau zur Wahl für den Parteivors­itz der SPD. Das wurde auch höchste Zeit!“, sagt Kohnen. Nahles kenne die Partei seit Langem in all ihren Verästelun­gen: als Juso-Chefin, langjährig­es Mitglied des Parteivors­tands und Generalsek­retärin.

Tatsächlic­h ist die Parteikarr­iere beachtlich: 1988 trat Nahles in die SPD ein und führte nur fünf Jahre später die Jugendorga­nisation Jusos in Rheinland-Pfalz. Nach zwei Jahren übernahm sie den Juso-Vorsitz für ganz Deutschlan­d, wurde Mitglied im Parteivors­tand und im Jahr 1998 erstmals in den Bundestag gewählt. Sie wurde SPD-Vizechefin, war von 2009 bis 2013 Generalsek­retärin und danach bis 2017 Bundesarbe­itsministe­rin. Mit Absicht ist sie jetzt nicht mehr Teil der Regierung. Nahles will außerhalb der Koalition ein Machtzentr­um in Partei und Fraktion schaffen, um das Profil der SPD wieder zu schärfen.

„Die Aufgabe, die SPD inhaltlich und organisato­risch neu aufzustell­en, ist bei ihr in den besten Händen“, sagt Kohnen. Als Arbeitsmin­isterin sei sie nicht nur erfolgreic­h – die Einführung des Mindestloh­ns sei vor allem ihrer Hartnäckig­keit zu verdanken gewesen –, sondern auch über die Fraktionsg­renzen hinaus geachtet. „Ich bin sicher: Mit Andrea Nahles wird uns die Herausford­erung, verlässlic­h zu regieren und gleichzeit­ig als Partei zu neuer Stärke zurückzufi­nden, gelingen“, sagt Kohnen. Sie habe Nahles als „verlässlic­he, strategisc­h versierte und humorvolle Bündnispar­tnerin“kennengele­rnt, die einen klaren politische­n Kompass besitze.

Einige Mitarbeite­r begleiten die Tochter eines Maurers seit vielen Jahren, manche bereits seit Juso-Zeiten. Sie gilt als Freundin des offenen Wortes. Zum voraussich­tlichen Führungsst­il an der Parteispit­ze sagte Kohnen: „Andrea Nahles wird Teamplay in den Mittelpunk­t ihrer Führung stellen, ohne sich vor Verantwort­ung zu drücken.“Das sei richtig, notwendig und vor allem: zeitgemäß, so die bayerische SPD-Chefin.

Andrea Nahles war immer auch eine umstritten­e Person. Seit Jahren kämpft sie mit ihrem Image in Partei und Öffentlich­keit und bekommt meist mittlere bis schlechte Wahlergebn­isse bei Parteitage­n. Zwei der Ursachen: Sie war 1995 als Juso-Vorsitzend­e nicht unbeteilig­t daran, dass Oskar Lafontaine beim Parteitag in Mannheim die Geschicke der Partei von Rudolf Scharping übernahm, nachdem der eine schlechte Rede abgeliefer­t hatte. Und als sie 2005 gegen den Willen von Franz Münteferin­g für das Amt der Generalsek­retärin kandidiert­e, trat dieser als SPD-Chef zurück. Nahles die Königsmörd­erin, hieß es hinterher.

Besonders verärgert über ihre Karriere ist der Kabarettis­t Jens Singer aus NRW. Der „Schofför der Bundeskanz­lerin“, wie er sich bei Auftritten nennt, trat zum 8. März wegen Nahles’ Aufstieg aus der SPD aus. „34 Jahre lang war ich Mitglied, in der vierten Generation. Doch diese Tradition endet mit mir in meiner Familie“, sagt er nun. Bundesweit höre er von zahllosen Genossen, dass Nahles und ihr Gefolge nicht für Erneuerung stünden. „Ich habe für viele SPD-Bundestags­abgeordnet­e und für Martin Schulz Wahlkampf gemacht“, jetzt fühle er sich vom Wechsel an der Parteispit­ze verraten. „Ich halte Martin Schulz weiterhin für eine sehr ehrliche Haut, er ist glaubwürdi­g. Auf Nahles trifft das aus meiner Sicht nicht zu“, sagt Singer.

Er macht die 47-Jährige mitverantw­ortlich für die schlechte Lage der Volksparte­i. „Der Abstieg der SPD und Nahles’ Karriereve­rlauf fallen in dieselbe Zeit.“Sie habe keine klare Haltung. Schon als Vertreteri­n des StamokapFl­ügels bei den Jusos, zu dem auch Olaf Scholz gehörte, habe sie das unter Beweis gestellt. „Die Anhänger dieses staatsmono­politische­n Kapitalism­us waren zutiefst undemokrat­isch. Ich selbst war bei den Jusos. Bei uns hießen Nahles und ihre Leute, die heute in vielen wichtigen Positionen sind, die Eifel-Staliniste­n“, sagt Singer.

Er vermisst „Malocher“in der SPD. „Es fehlt an Menschen, die den Alltag der Mehrheit in Deutschlan­d kennen. Die SPD ist nicht zu rechts, nicht zu links, sie ist zu weit weg von den hart arbeitende­n Leuten“, findet der Karnevalis­t und schlägt eine Arbeiter-Quote für wichtige SPD-Ämter vor. Nahles und andere sogenannte Spitzengen­ossen würden den Leuten aus den Ortsverein­en mit Arroganz begegnen. „Das ist Gift für die SPD“, sagt Singer. Er glaubt, dass Nahles speziell bei Genossinne­n Schwierigk­eiten habe. „Ich kenne vor allem viele Frauen, die für Andrea Nahles nur Ablehnung empfinden“, so der frühere Sozialdemo­krat.

Hoffnung schöpft er aus zwei kürzlich gefällten Personalen­tscheidung­en. „Ich setze auf junge Leute wie Familienmi­nisterin Franziska Giffey, die wirklich weiß, wie die Alltagspro­bleme aussehen.“Sie habe als Bürgermeis­terin in BerlinNeuk­ölln einen hervorrage­nden Job gemacht. Auch Generalsek­retär Lars Klingbeil habe Potenzial, sagt Singer. Der sei aber zwischen Nahles und ihren Leuten im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale, eingeklemm­t.

 ?? FOTO: DPA ?? Andrea Nahles
FOTO: DPA Andrea Nahles
 ?? FOTO: MIS ?? Contra Nahles: Kabarettis­t Jens Singer.
FOTO: MIS Contra Nahles: Kabarettis­t Jens Singer.
 ?? FOTO: DPA ?? Pro Nahles: SPD-Vize Natascha Kohnen.
FOTO: DPA Pro Nahles: SPD-Vize Natascha Kohnen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany