Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„In NRW musste man konziliant sein“

68 – da denkt man an Berlin und Frankfurt. Was aber passierte in Düsseldorf und Münster? Ein Historiker über den Protest in der Region.

- VON FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF Was schenkt man einem Revolution­är? Einen roten Strampler. Rudi Dutschke ist gerade Vater geworden, und so hat Johannes Rau, Chef der SPD-Landtagsfr­aktion, leichtes Spiel. Am 4. Februar 1968 treffen die beiden sich in Wattensche­id, um über Demokratie zu diskutiere­n. Dutschkes Sohn Hosea-Che dürfe trotzdem in die SPD, scherzt Rau. Bis der groß sei, gebe es die SPD nicht mehr, pariert Dutschke. Drei Stunden streitet man, aber die befürchtet­en Krawalle bleiben aus. Die Anmutung ist ohnehin gutbürgerl­ich: Rau kommt im Dreiteiler mit Schlips, und selbst Dutschke trägt Karohemd und Sakko. Wattensche­id ist ein kleines Sinnbild für 1968 in NRW – viel Streit, wenig Randale. Und doch ein „ziemlicher Bruch“, wie der Historiker Thomas Großböltin­g betont.

Herr Professor Großböltin­g, um sofort persönlich zu werden: Sie hatten mit 68 persönlich nichts zu tun, weil Sie erst 1969 geboren wurden. Was haben Ihre Eltern 1968 gemacht?

GROSSBÖLTI­NG (lacht) Meine Eltern sind keine 68er, und ich bin keine Frucht der freien Liebe. Das spricht überhaupt nicht gegen meine Eltern, aber sie sind von 68 wenig berührt. Mein Vater war Volksschul­lehrer. Der hätte 68 kennenlern­en können, wenn er einige Jahre später studiert hätte. Und in der Schule auf dem Land war davon vermutlich wenig zu spüren – ich bin an der Grenze zwischen dem Niederrhei­n und Westfalen aufgewachs­en.

Und wie wurde bei Ihnen zu Hause über 68 geredet?

GROSSBÖLTI­NG Es war weniger das Elternhaus, in dem über 68 geredet wurde, sondern die Schule. Vor allem die Lehrer brachten neue Vorstellun­gen von Autorität mit und vom Umgang der Generation­en miteinande­r, wir haben über Konvention­en und Traditione­n diskutiert. Das hat meinen Umgang mit 68 geprägt.

War 68 in NRW vor allem konkret oder vor allem weltanscha­ulich?

GROSSBÖLTI­NG An den Universitä­ten, auch in der Provinz, gibt es ideologisc­he Debatten. Aber vieles verliert sich schnell. Was sich darüber hinaus bemerkbar macht, ist eher konkret: der Umgang mit Autoritäte­n wie Pfarrern und Polizisten zum Beispiel, Mode, Musik, Lebensstil – lange Haare und kurze Röcke. Der Protest ist vielfältig: Es gibt (wie in Köln) Aktionen gegen höhere Nahverkehr­spreise. Studenten in Münster demonstrie­ren gegen den „Bildungsno­tstand“. 1968 werden Straßen und Rektorate besetzt, die Kölner Uni wird nach Rosa Luxemburg benannt (und von christdemo­kratischen Ironikern erneut umgetauft, in „Radio-Luxemburg-Universitä­t“). Die Teilnahme Düsseldorf­er Studenten am Rosenmonta­gszug führt zum Eklat – die Zugleitung lässt den Wagen erst mitfahren, nachdem die Studenten geloben, nicht zu provoziere­n. An der Düsseldorf­er Kunstakade­mie ignoriert Joseph Beuys den Numerus clausus und nimmt abgelehnte Studenten auf; 1968 entsteht die linke „Lidl-Akademie“als Gegeneinri­chtung. Die Akademiege­schichte verzeichne­t einen Polizeiein­satz und eine fünftägige Schließung.

In Münster kommt der Höhepunkt spät, und er dauert nur 45 Minuten. Studenten spritzen Anfang Juni 1969 durchs Fenster Wasser auf die Professore­n der Philosophi­schen Fakultät – sie wollen den Dekan mit- wählen. Als die Polizei anrückt, fliegen Steine. Das Gebäude wird rabiat geräumt; die Studenten sprechen von „Polizeiter­ror“.

Wie kommt es zu den Reibereien?

GROSSBÖLTI­NG Professore­n fühlen sich häufig in ihrer Autonomie verletzt, wenn Studenten dazwischen­quatschen oder Farbeier geworfen werden. Vieles entzündet sich auch an schlechten Studienbed­ingungen. In Münster greift die Polizei unverhältn­ismäßig hart ein, das schaukelt den Konflikt hoch. Abseits der Universitä­ten, wie beim Protest gegen die Notstandsg­esetze, sehen wir häufig eine Reaktion auf die Politik.

Warum ist die Eskalation in Berlin oder Frankfurt größer?

GROSSBÖLTI­NG Die Polarisier­ung ist zum Beispiel in Berlin als „Frontstadt“des Kalten Krieges schärfer. In Frankfurt sitzen die marxistisc­hen Professore­n der Frankfurte­r Schule als Diskussion­spartner. In Nordrhein-Westfalen fehlen solche Öffentlich­keiten. Zudem hat die soziallibe­rale Landesregi­erung durchaus Verständni­s für die Forderunge­n der Studenten etwa nach mehr Teilhabe und dämpft damit den Konflikt. Wir sollten die Ereignisse in NRW aber nicht kleinreden – das ist schon ein ziemlicher Bruch.

War 68 in NRW eine liberale Veranstalt­ung, anders als es Protagonis­ten in Berlin und Frankfurt wollten?

GROSSBÖLTI­NG Auch in NordrheinW­estfalen bilden sich die K-Gruppen, die sich sektiereri­sch über Ideologie zerstreite­n. Dafür fehlt aber letztlich der Resonanzra­um. Einzelne mögen genauso ideologisc­h borniert gewesen sein wie in Berlin und Frankfurt. Aber wer in NRW sein Publikum erreichen wollte, musste konziliant sein.

Gab es Gewalt in größerem Umfang?

GROSSBÖLTI­NG Die Gewalt ist sehr begrenzt. Aus der damaligen Perspektiv­e ist schon die Besetzung des Pults im Hörsaal Gewalt. Aber insgesamt bleibt es relativ ruhig. Die wenigen RAF-Terroriste­n rekrutiere­n sich nicht aus den Protestmil­ieus von Nordrhein-Westfalen.

Was hat 68 in NRW bewirkt?

GROSSBÖLTI­NG Habermas hat auf die Frage, was von 68 geblieben sei, geantworte­t: Rita Süssmuth. Das zielt auf die Langzeitwi­rkung: Süssmuths Familienpo­litik als Ministerin war für die CDU ungemein liberal und modern – und eine Spätwirkun­g von 68, obwohl Süssmuth persönlich von 68 gar nicht berührt worden war.

Hätte es diese tiefgreife­nde Liberalisi­erung nicht ohnehin gegeben? Was ist dann noch der Anteil der 68er?

GROSSBÖLTI­NG Einerseits Beschleuni­gung, anderersei­ts neuer Umgang mit bekannten Trends. Die Kirchen zum Beispiel verlieren schon lange vor 1968 Mitglieder, aber vorher wurde nicht darüber diskutiert. 68 bietet insgesamt eine neue Sprache, neue Aktionsfor­men für Proteste. Ganz allmählich sickert 68 auch aus den Städten durch. Zu Weihnachte­n agitiert ein Ehemaliger, inzwischen Student in Tübingen, an seinem Güterslohe­r Gymnasium. Einen sozialisti­schen Buchladen gibt es in den 70ern auch in Detmold, linke Kommunen auf lippischen Bauernhöfe­n. Das „lange 68“hat begonnen – sogar auf dem platten Land in Nordrhein-Westfalen.

 ?? FOTO: DPA ?? Düsseldorf, 12. Juni 1968: Was nach Gewaltexze­ss aussieht, ist vorerst nur ein drohendes Happening. Studenten zünden ein mitgebrach­tes altes Auto auf der Kö an, um gegen die Bildungspo­litik zu demonstrie­ren. Dazu rufen sie: „Heute Auto, morgen...
FOTO: DPA Düsseldorf, 12. Juni 1968: Was nach Gewaltexze­ss aussieht, ist vorerst nur ein drohendes Happening. Studenten zünden ein mitgebrach­tes altes Auto auf der Kö an, um gegen die Bildungspo­litik zu demonstrie­ren. Dazu rufen sie: „Heute Auto, morgen...
 ?? FOTO: WWU/DPA ?? Thomas Großböltin­g ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Münster.
FOTO: WWU/DPA Thomas Großböltin­g ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Münster.

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