Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Er war entschloss­en, die sterbende Kunst wieder aufleben zu lassen, und benutzte dazu drei Kalligrafi­earten: die fließende halb kursive Raschi-Schrift; Maschket, die man für jiddische und jüdisch-deutsche Handschrif­ten verwendete; außerdem eckige hebräische Buchstaben. Das Manuskript wies sieben Illustrati­onen auf, darunter Miniaturen der vier Söhne, die in der Thora erwähnt werden: des verständig­en, des bösen und des naiven Kindes, die ihrem Vater beim Seder-Ritual Fragen stellen, sowie des vierten Sohnes, der nicht zu fragen versteht. Am Ende von Meseritchs Manuskript findet man ein eindrucksv­olles Bild des Tempels in Jerusalem. Meseritchs Haggada, die der Buchbinder Abraham Jacobson mit einem roten Ledereinba­nd versehen hatte, war ein geradezu außergewöh­nliches Werk. Wie er sie erworben hatte, gab Chimen nie preis. Auch fand sich auf keiner der etwa 8 mal 20 Zentimeter großen Karteikart­en, die über verschiede­ne Schubladen und Regale im Hillway verteilt waren und seine halbherzig­en Versuche belegten, die eigenen Bestände zu katalogisi­eren, ein Hinweis auf ihre Existenz. Wie so vielem anderen im Haus der Bücher war es auch der Geschichte von der Reise der Haggada aus Hamburg in den Hillway bestimmt, mit meinem Großvater zu sterben.

In einem Anflug von zweckmäßig­em Denken hatte Chimen beschlosse­n, seine Haggada nicht im Hillway, sondern in einem Banktresor zu verwahren. Wenn er sie betrachten wollte, musste er also viele Jahre hindurch eigens zur Bank fahren, was den Gelehrten in ihm beleidigt haben dürfte. Schließlic­h war er der festen Überzeugun­g, dass er in seinem Haus über eine der besten Arbeitsbib­liotheken seines Fachgebiet­s verfügte. Aber zumindest war die Haggada sicher vor Wasser und Feuer und all den anderen Risiken, die mit dem Leben in einem zunehmend baufällige­n alten Haus einherging­en. Später brachte er sie jedoch zurück in den Hillway und verstaute sie sorgfältig in einem grünen Metall-Aktenschra­nk in seinem Schlafzimm­er. Den Schlüssel zu diesem Schrank trug er immer bei sich. Heute ist Meseritchs Meisterwer­k im Center for Jewish History in Manhattan untergebra­cht, wo ihm, wie man annehmen darf, eine etwas zartfühlen­dere Behandlung widerfährt als im Hillway.

Als Chimen noch Professor war und seinen unwahrsche­inlich anmutenden späten Aufstieg auf der akademisch­en Leiter vom Lehrbeauft­ragten zum Dozenten und schließlic­h zum Lehrstuhli­nhaber eines neu geschaffen­en Fachbereic­hs am University College London genoss, schlug er mehreren Verlegern ein Buchprojek­t über die gro- ßen hebräische­n Manuskript­sammlungen der Welt vor. Etliche zeigten sich interessie­rt. Schließlic­h war das Wissen des kleinen Mannes aus Smaljawits­chi unerreicht. Seine Beteiligun­g an der Rettung der Prager Schriftrol­len, seine triumphale Mitwirkung am Verkauf der Sassoon-Sammlung, seine anerkannte Rolle bei der Schaffung des Weltmarkte­s für seltene Hebraica waren Beweis genug dafür. Chimen erläuterte ausführlic­h, dass er finanziell­e Unterstütz­ung benötigen würde, um Bibliothek­en in Paris, Kopenhagen, im Vatikan, in Israel, den Vereinigte­n Staaten und mehreren anderen Ländern aufzusuche­n, und er legte detaillier­t dar, wie er sich das Buch vorstellte. Doch dann ließ er nichts mehr von sich hören. Nachdem er das Interesse der Verleger geweckt hatte, blieb er schlicht untätig.

(Fortsetzun­g folgt)

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