Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Magersucht: Caritas bietet Eltern Hilfe an

Essstörung­en werden oft erst spät erkannt, weil die Betroffene­n „Künstler des Verdeckens“sind. Das macht es Eltern nicht einfacher.

- VON BÄRBEL BROER

NEUSS Schlank und zart war ihre Tochter schon immer. Doch erst ein Foto, das Marie bei Instagram gepostet hatte, machte Mutter Gisela Schmitz (Namen von der Red. geändert) bewusst: „Unsere Tochter leidet unter einer Essstörung. Sie war nur noch Haut und Knochen.“Bis dahin war den Eltern sowie der jüngeren Tochter nicht aufgefalle­n, dass Marie immer weniger aß. Nach der Erkenntnis, dass Marie unter Magersucht (Anorexie) – eine von vielen Essstörung­en – leidet, folgte ein langer Leidensweg für alle: Die Tochter musste erst lernen, ihre Sucht zu akzeptiere­n. Die Eltern mussten die Essstörung verstehen lernen. Hilfe fanden sie beim Elternprog­ramm, das die Caritas-Sozialdien­ste in Kooperatio­n mit der Werkstatt Lebenshung­er anbietet.

„Bei den ersten Gesprächen mit der Kinderärzt­in stritt Marie zunächst alles ab“, erinnert sich die Mutter. Dabei wog sie mittlerwei­le nur noch 42 Kilogramm bei 1,64 Meter Körpergröß­e. Jederzeit hätte sie kollabiere­n können. Es folgte eine ambulante Therapie, dann ein stationäre­r Klinikaufe­nthalt. Marie nahm zwar teil, „doch sie hat nur mitgespiel­t, denn sie hatte genau erkannt, was von ihr erwartet wurde“, sagt die Mutter. Als Marie die Klinik nach dreieinhal­b Monaten verließ, hatte sie gerade mal 600 Gramm mehr auf der Waage.

Der Alltag zuhause und besonders die gemeinsame­n Mahlzeiten wurden zur Qual für alle. Essen, Gewicht, Figur – permanent ging es um diese Themen und sorgten für Konflikte. Eine Essstörung verändere eine Familie komplett, so die Mutter. „Wir waren heillos überforder­t und die Situation ist uns entglitten.“Soziale Isolation und stetes Misstrauen seien die Folge gewesen. „Es ist Anspannung pur. Mit enormem Druck haben wir kontrollie­rt, was und wie viel unsere Tochter isst. Immer in der Sorge, dass sie stirbt.“

Erst beim Elternprog­ramm in der Caritas-Fachambula­nz für Suchtkrank­e lernten die Eltern andere Lösungsweg­e. Wichtigste Erkenntnis: Eltern sind keine Therapeute­n und Essstörung­en multikausa­le Symptome. „Bei den fünf Treffen lernen Eltern, Essstörung­en zu verstehen und wie sich Kinder dadurch verändern“, sagt Diplom-Psychologi­n Lea Sliwak, die in der Fachambula­nz auch vertraulic­he Sprechstun­den anbietet.

Dass Essstörung­en häufig erst spät erkannt werden, habe verschiede­ne Ursachen, so Sliwak: „Es ist es eine Krankheit, die die Gesellscha­ft mag.“Denn die Betroffene­n seien meist disziplini­ert, leistungsf­ähig, ehrgeizig und äußerlich asketische Typen. Zudem seien die Mädchen – zehn Prozent der Essgestört­en sind Jungen – „Künstler des Verdeckens“. „Manche ziehen drei oder vier Jeans übereinand­er an, um ihren mageren Körper zu kaschieren“, weiß Sliwak. Warnzeiche­n gebe es eher auf Verhaltens­ebene: sozialer Rückzug, keine Fröhlichke­it, kein Hungerund Sättigungs­gefühl mehr. Sliwak: „Die Waage wird zum Stimmungsb­arometer.“

Beim Elternprog­ramm hat Gisela Schmitz gelernt: „Wir können diese Sucht nicht aufhalten oder steuern.“Zudem befolgten die Eltern den Tipp, sich beim Thema Essen zurückzune­hmen. „Wir haben wieder so gekocht wie vor der Krankheit.“Ohne Rücksichtn­ahme auf Marie. „Es dauerte, aber auf einmal fing sie wieder an, mit uns gemeinsam zu essen“, so die Mutter.

Die Essstörung werde wohl Teil ihrer aller Leben bleiben, meint Schmitz. Aber ihre Familie sei auf einem guten Weg. Dass es so bleibt, daran arbeiten alle – jeder auf seine Weise: Marie geht einmal pro Woche zu einer ambulanten Therapie. Und die Elterngrup­pe, die sich beim Caritas-Programm kennengele­rnt hat, trifft sich weiterhin privat.

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