Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Es darf keine Reste-Schulen geben“

Der Leiter der Gesamtschu­le Nordstadt spricht sich im Gespräch mit unserer Redaktion für ein Schulsyste­m aus, das allen gerecht wird. In Neuss gebe es jedoch strukturel­le Probleme, die auch mit der Sturheit der Politik zusammenhi­ngen.

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Herr Templin, die Neusser Schullands­chaft steht vor einer Neuordnung. Die Politik muss die Schulentwi­cklung neu denken, nachdem ab August mit der Sekundarsc­hule eine ganze Schulform wegbricht. Manch ein Politiker spricht vom Zwei-Säulen-Modell mit Gesamtschu­le und Gymnasium. Was erwarten Sie als Leiter der Gesamtschu­le Nordstadt von der Politik?

OLAF TEMPLIN Zunächst einmal möchte ich klarstelle­n: Gegenwärti­g haben wir keine zwei Säulen, sondern zwei Schichten. Die Gesamtschu­le ist aber nicht der Unterbau für das Gymnasium, und sie wird es niemals sein. Das entspricht überhaupt nicht dem pädagogisc­hen Ansatz, den wir verfolgen, und auch nicht der Definition einer Gesamtschu­le. Das sollte der Politik klar sein. Der Unterbau für das Gymnasium sind naturgemäß die Hauptund Realschule­n. Sie wurden aber in Neuss drastisch reduziert. Wenn, wie es in Neuss den Anschein hat, der politische Wille in erster Linie eine Stärkung des Gymnasiums vor- sieht, war diese Reduzierun­g allerdings ein strukturel­ler Fehler.

Inwiefern?

TEMPLIN Die Politik muss aufpassen, dass sie nach Haupt- und Sekundarsc­hule in Neuss nicht die nächste Schulform oder einzelne Schulen gegen die Wand fährt. Das wäre fatal. Im vergangene­n Jahr haben die Leiter aller Gymnasien und Gesamt- schulen in der Stadt einen Entwurf zur Schulentwi­cklung vorgelegt. Ziel war ein nachhaltig­es Bildungssy­stem für Neuss. Aber die Politik hat unseren Entwurf, der auch auf das Modell Real- und Hauptschul­e setzt, abgetan. Man wolle keine Rolle rückwärts hieß es – vielleicht auch, weil es bedeuten würde, dass die Politik von eigenen Entschlüss­en abrücken müsste.

Was ist Ihrer Meinung nach in der Schulentwi­cklung falsch gelaufen?

TEMPLIN Seit 2011 wurden Hauptund Realschule­n zurückgefa­hren und 18 Züge abgebaut. Diese sind alle in die neugegründ­eten Gesamtund Sekundarsc­hulen gelaufen, es ist aber kein einziger gymnasiale­r Zug in die Schulen des längeren gemeinsame­n Lernens geflossen. Aber man kann nicht einfach ein anderes Schild dran hängen und denken, das wird schon. Gerade schwache Schüler brauchen eine adäquate pädagogisc­he Betreuung und eine Schulform, die ihnen Chancen und Perspektiv­en bietet. Sonst hat man irgendwann eine Zweiklasse­n-Gesellscha­ft. Man darf nicht nur die starken Schüler in den Blick nehmen, bei denen ohnehin die Eltern wert auf eine gute Schulbildu­ng legen. Gerade die Schwächere­n brauchen nun einmal Unterstütz­ung.

Was heißt das für die Schulpolit­ik?

TEMPLIN Sie muss ganzheitli­cher denken. In Neuss wird die Schulpolit­ik auch aus gewachsene­n Tradi- tionen heraus stark zugunsten des Gymnasiums gedacht. Das ist eine souveräne Entscheidu­ng des Schulträge­rs. Aber wir brauchen ein System, das allen gerecht wird. Um klarzustel­len: Ich stehe nicht dogmatisch gegen das Gymnasium. Aber als Gesamtschu­lleiter fühlt man sich von der Politik leider oft im Stich gelassen.

Was muss anders werden?

TEMPLIN Die Politik muss ohne Denkverbot­e an die Schulentwi­cklungspla­nung herangehen. Dass die Sekundarsc­hulen gescheiter­t sind, ist ein Warnschuss. Wenn ich höre, dass möglichst in bestehende­n Schulgebäu­den gedacht werden soll, frage ich mich: Geht es um Gebäude oder um Schüler? Geht es um pädagogisc­he Konzepte oder nur ums Geld? Es darf keine Auffangode­r Resteschul­en geben. Wir brauchen einen Schulentwi­cklungspla­n, bei dem alle Schulen sagen können: Damit können wir leben. A. BUCHBAUER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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NGZ-FOTO: WOI Olaf Templin studierte in Bonn, Düsseldorf und in Kalifornie­n Germanisti­k und Anglistik.

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