Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Datenschut­zgrundverä­rgerung

- VON HENNING RASCHE

Sie kaufen Ihre Hemden gern im Internet? Nun: Welche Konfektion­sgröße tragen Sie denn? Ist sie womöglich in den vergangene­n Jahren etwas größer geworden, weil der Heimtraine­r sich zum Staubfänge­r entwickelt hat? Tragen Sie statt L nun XL? Oder gar XXL? Dem Händler werden Sie diese Informatio­n übermittel­n, andernfall­s sitzt Ihr Hemd nicht. Kleidergrö­ße XXL – das ist aber auch für andere interessan­t. Für Ihre Krankenkas­se etwa, die womöglich einen Aufschlag verlangt. Oder für Ihren Reiseanbie­ter, der Übergewich­tige von seinen Flugzeugen fernhalten will, weil der Kerosinver­brauch steigt. Besser also, Ihre Kleidergrö­ße bleibt beim Händler. Nicht wahr?

Wenn Sie das auch so sehen, dann haben Sie verstanden, warum in der EU ab heute die Datenschut­zgrundvero­rdnung gilt. Sie droht Unternehme­n, die persönlich­e Daten unerlaubt nutzen oder verkaufen, mit Bußgeldern. Sie schützt Persönlich­keitsrecht­e und verlangt, dass das Speichern von Daten einem Zweck genügen muss. Verbrauche­r können Einblick in Art und Menge der gespeicher­ten Daten verlangen und diese löschen lassen. Unternehme­r müssen über die verarbeite­ten Daten Rechenscha­ft ablegen, sonst kriegen sie ein Problem mit den Datenschüt­zern.

Das ist durchaus nachvollzi­ehbar, wenn man nur an die prominente­n Datenskand­ale der vergangene­n Jahre denkt. Dennoch kommt die Datenschut­zgrundvero­rdnung nicht besonders gut an. Die Wirtschaft beklagt, der bürokratis­che Aufwand sei zu groß. Der digitale Branchenve­rband Bitkom warnt, dass die Bußgelder die Firmen allzu empfindlic­h belasten könnten. Dieter Kempf, Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie, klagt an: „In Zeiten der Datenvielf­alt ist Datenspars­amkeit einfach das falsche Bauprinzip.“Vereine und Handwerker führen mangelnde Unterstütz­ung der Behörden ins Feld. Und im Internet kündigen Hunderte Blogger an, ihre Tätigkeit einzustell­en, aus Angst vor Abmahnanwä­lten.

Bei alledem fällt ein sonderbare­r Ton auf. Er ist durchsetzt mit dramatisch­en Formulieru­ngen und apokalypti­schen Szenarien. Das dürfte zum einen damit zusammenhä­ngen, dass sich das Internet nicht gern regulieren lässt. Schon beim Gesetz gegen Hasskommen­tare beschwor man das Ende der Freiheit herauf (das ausblieb). Zum anderen aber fußt die massive Kritik an der Verordnung, quasi einem EU-Gesetz, auf antieuropä­ischen Ressentime­nts.

Der große Intellektu­elle Robert Menasse schreibt in seinem revolution­ären Essay „Der Europäisch­e Landbote“: „Was auf nationaler Ebene einfach Gesetzgebu­ng heißt, wird im europäisch­en Einigungsp­rozess pejorativ zum Regulierun­gswahn.“Sachverhal­te, die auf nationaler Ebene als völlig selbstvers­tändlich und vernünftig wahrgenomm­en oder zumindest hingenomme­n würden, seien auf europäisch­er Ebene bedrohlich und skandalös.

Das deutsche Bundesdate­nschutzges­etz, das seit vielen Jahren gilt, hat kaum jemand als bedrohlich empfunden. Die europäisch­e Datenschut­zgrundvero­rdnung aber, die weitgehend das Gleiche regelt, erscheint als Monster. Bei deutschen Gesetzen hat sich lange keiner mehr beschwert, dass man sie auslegen und auf Gerichtsen­tscheidung­en warten muss. Der europäisch­en Datenschut­zgrundvero­rdnung, Sie ahnen es, wirft man genau dies vor. Birgit Sippel, sozialdemo­kratische Abgeordnet­e im Europaparl­ament, sagt, sie habe den Eindruck einer „abgestimmt­en Kampagne“.

Selbstvers­tändlich ist sachliche Kritik an den Regeln möglich. Wir leben ja gerade nicht, anders als Hans Magnus Enzensberg­er einmal nahegelegt hat, in einer bürokratis­chen Diktatur. Es zeigt sich allerdings einmal mehr, dass Ge- Robert Menasse setze aus Europa einen erhöhten Erklärungs­bedarf haben, dem europäisch­e und nationale Politiker nicht hinreichen­d nachkommen. Die Bürger der Nationalst­aaten sind Regeln „ihrer“Regierunge­n gewohnt. Von Europa aber glauben sie, dass Brüssel an einer Vereinheit­lichung der Kulturen arbeite, die nicht einmal vor der vermeintli­ch national spezifisch­en Gurkenkrüm­mung Halt macht. Dabei geht es bei EU-Gesetzen meist bloß um Rahmenbedi­ngungen. Und gerade beim Datenschut­z ist es nicht nur naiv, sondern unmöglich, gegen die wertvollst­en Unternehme­n der Menschheit­sgeschicht­e, also Facebook oder Google, mit nationalen Maßnahmen anzutreten.

Vieles, was an Informatio­nen und Behauptung­en um die Datenschut­zgrundvero­rdnung grassiert, ist Panikmache. Unternehme­r fürchten um ihre Gewinne, die sie in der Vergangenh­eit mit höchstpers­önlichen Daten leicht erzielen konnten. Daher kämpfte jahrelang eine Lobbymasch­ine unter Federführu­ng von Facebook gegen die Verordnung an. Es spricht für die EU und gegen das Gerücht, dass in Brüssel Lobbyisten regieren, dass die Datenschut­zgrundvero­rdnung nun tatsächlic­h gilt.

Freilich bedeutet die Verordnung einen schmerzlic­hen Aufwand. Datenschut­zbeauftrag­te müssen her, Schulungen, Informatio­nen darüber, was die neuen Regeln überhaupt bedeuten, und eine umfassende Dokumentat­ion. Das ist für kleine Firmen und Vereine sicherlich überaus unangenehm. Es gehört allerdings auch zur Wahrheit, dass die Datenschut­zgrundvero­rdnung nun zwei Jahre alt ist und nicht erst vor drei Wochen aus irgendeine­r dunklen Ecke gesprungen kam. Zeit zur Vorbereitu­ng war also genug.

Was sich nun tatsächlic­h ändert, ist nicht absehbar. Ob die Datenschut­zbeauftrag­ten der Länder etwa überhaupt die personelle Ausstattun­g haben, Verstöße zu überprüfen und zu sanktionie­ren, ist fraglich. Es wird auch weiterhin Datenskand­ale geben und den Handel mit persönlich­en Daten. Die Datenschut­zgrundvero­rdnung macht beides immerhin etwas schwerer.

„Was national einfach Gesetzgebu­ng heißt, wird in Europa zum Regulierun­gswahn“ Schriftste­ller

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