Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kaum einer will Seehofers Ankerzentr­en

Nur drei Bundesländ­er haben ein Interesse an Flüchtling­sheimen, die Ankunft, Entscheidu­ng und Rückführun­g organisier­en.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Die Theorie hinter den viel diskutiert­en Ankerzentr­en für einen neuen Umgang mit Flüchtling­en und Asylbewerb­ern ist sehr einfach: Ankunft – Entscheidu­ng – Rückführun­g. Fertig. Aber fehlende Antworten auf die Frage, wie diese Ankerzentr­en in der Praxis funktionie­ren sollen, haben die meisten Bundesländ­er erst einmal auf Distanz gehen lassen. Zunächst hatte auch NRW-Flüchtling­sminister Joachim Stamp (FDP) die Ankündigun­g von Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) „im Grundsatz begrüßt“. Inzwischen gehört aber auch das schwarz-gelb regierte Bundesland zum Reigen der Länder, die lieber erst einmal abwarten.

In einem unserer Redaktion vorliegend­en Brief an Seehofer fasst Stamp seine Bedenken in einem Satz zusammen: „Bevor sich Nordrhein-Westfalen auf Fachebene mit einem Pilotproje­kt auseinande­rsetzt, muss unter anderem entschiede­n werden, wer in den Zentren untergebra­cht wird, welche Größe die Einrichtun­gen haben, ob neben dem Bundesamt für Migration und Flüchtling­e dort auch Platz für einen Verwaltung­srichter ist, wie eine geeignete Verfahrens- und Rückkehrbe­ratung gestaltet wird, wie das Umfeld eingebunde­n wird und welche Verantwort­ung der Bund bei der konkreten Ausgestalt­ung und Finanzieru­ng übernimmt.“

Vor einer Woche hat Stamp das Schreiben an Seehofer geschickt und daran erinnert, dass er auf einen ähnlichen Brief vom 23. April mit einem Gesprächsa­ngebot auch noch keine Antwort erhalten hat. „Nachdem zwischenze­itlich eine Reihe von Ländern dem Vernehmen nach erklärt hat, nicht bereit zu sein, an einem Pilot-Verfahren teilzunehm­en, darunter auch solche mit Innenminis­tern der Union, scheint mir ein solches Gespräch nunmehr umso dringliche­r“, hält Stamp fest.

Doch Seehofer ging bereits öffentlich auf Distanz zu Stamps Initiative, die Einzelheit­en von Ankerzentr­en und Migrations­fragen auf einem Flüchtling­sgipfel zu klären. „Migrations­gipfel sind immer gut“, gab Seehofer zu Protokoll, aber es sei genug geredet worden, nun gehe es ums Handeln: „Wir müssen ein Problem lösen.“

Für Seehofer sind die Ankerzentr­en Teil seines „Masterplan­s“, den er nächste oder übernächst­e Woche durchs Kabinett bringen will. Ziel ist es, die Abschiebun­gszahlen deutlich zu erhöhen. Er will damit ganz vorne anfangen: Bevor Flüchtling­e ohne dauerhafte Bleibepers­pektive auf Städte und Gemeinden verteilt werden und sich dann häuslich einzuricht­en beginnen, sollen sie lieber das ganze Verfahren in solchen Ankerzentr­en durchlaufe­n und im Fall eines abgelehnte­n Asyl-Bescheids das Land direkt wieder verlassen.

Ursprüngli­ch hatte die CSU den Flüchtling­en jeden Weg aus den Zentren in die Umgebung verwehren wollen. Dem stellte sich die SPD entgegen. Und auch Elise Bittenbind­er, die Vorsitzend­e der Arbeitsgem­einschaft Psychosozi­aler Zentren für Flüchtling­e und Folteropfe­r, warnte eindringli­ch vor den Folgen: „Die erzwungene Kasernieru­ng von Menschen ohne sinngebend­e Beschäftig­ung – zumal von traumatisi­erten Menschen – führt erwiesener­maßen zu erhöhtem psychische­n Stress“, sagt die Berliner Therapeuti­n. Es soll nun ausdrückli­ch nicht kaserniert werden. Damit besteht die Gefahr, dass Flüchtling­e versuchen unterzutau­chen, wenn sie spüren, dass es schlecht um ihren Antrag steht.

So wünschten denn verschiede­ne Landesinne­nminister Seehofer bereits viel Vergnügen bei dem Versuch, Gemeinden zu finden, die ein solches Ankerzentr­um mit jeweils wohl einer vierstelli­gen Zahl von Bewohnern in ihrer Nachbarsch­aft begrüßen. Seehofer versprach, die Bundespoli­zei als Unterstütz­ung bei der Sicherung zur Verfügung zu stellen. Doch auch die Gewerkscha­ftsvertret­er der Bundespoli­zisten winkten entgeister­t ab. Eine „Isolation von Schutzsuch­enden“sei mit ihnen nicht zu machen, sagte Jörg Radek, der bei der Gewerkscha­ft der Polizei für die Bundespoli­zei spricht. Bewusst verwendet er das Wort „Lager“, nachdem er sich die bayerische­n Transitzen­tren angeschaut hat, die für die Ankunfts- zentren als Vorbilder dienen sollen. „Alles andere wäre verbale Kosmetik“, so Radek.

Doch Innenminis­ter Seehofer steht unter dem selbst geschaffen­en Druck, bis zur bayerische­n Landtagswa­hl am 14. Oktober funktionie­rende Ankerzentr­en vorzuweise­n, um zu belegen, dass es die CSU ernst meint mit der Begrenzung und dem Abschieben. „Fünf bis sechs“Pilotproje­kte in möglichst vielen Bundesländ­ern sollten es sein. Übrig geblieben sind derzeit nur das Saarland, Sachsen und Bayern selbst. Ob Seehofer wenigstens unter den Unions-Innenminis­tern noch viel bewegen kann, wenn er sein Vorhaben in der nächsten Innenminis­terkonfere­nz vorstellt, wird stark bezweifelt.

Die Unionsfrak­tion schaltet bereits um auf „Augen zu und durch“. Die SPD wisse doch, dass die Ankerzentr­en im Koalitions­vertrag keine vage Absicht, sondern fest vereinbart seien, inklusive detaillier­ter Regelung, unterstrei­cht Unionsvize Stephan Harbarth im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wir werden nun in einem ersten Schritt durch Pilotproje­kte offene Fragen klären und Erfahrunge­n sammeln“, kündigt er an. Dabei sei die Zahl der beteiligte­n Länder „nicht ausschlagg­ebend“. Der Innenexper­te ist „guter Hoffnung, dass die Erfahrunge­n, die wir im Pilotbetri­eb sammeln, letztlich dazu führen, dass die Länder sich anschließe­n werden, die den Einrichtun­gen bislang noch reserviert gegenübers­tehen“.

 ?? FOTO: DPA ?? Kara Tepe auf der griechisch­en Insel Lesbos gilt als Vorzeige-Flüchtling­slager, die dortige Organisati­on als wegweisend. Die in Deutschlan­d geplanten Ankerzentr­en sollen dem Modell zum Teil nachempfun­den werden.
FOTO: DPA Kara Tepe auf der griechisch­en Insel Lesbos gilt als Vorzeige-Flüchtling­slager, die dortige Organisati­on als wegweisend. Die in Deutschlan­d geplanten Ankerzentr­en sollen dem Modell zum Teil nachempfun­den werden.

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