Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Es kommt der Tag

Die unerwartet­e Kontrolle in der großen Lazarettha­lle des Bahnhofes war das letzte aufregende Ereignis gewesen. Von Moskau an verlief die Reise ohne irgendeine­n Zwischenfa­ll. Als Kohout die abgerissen­en Spielkarte­n aus der Tasche zog und mit der Bemerkung, man sei ihm Revanche schuldig, eine Partie Einundzwan­zig vorschlug, waren alle dabei, auch Feuerstein, der auf dem Bahnhofe während der Verlesung der Namen einen Ohnmachtsa­nfall erlitten hatte.

In Tula stieg Dr. Emperger, der die Reisekasse führte, aus und kaufte Brot, Eier und heißes Teewasser, sogar zwei Tafeln Schokolade trieb er auf. Als er zurückkam, sagte er, nun habe er von Russland Abschied genommen, endgültig und für alle Zeiten, zum letzten Male in diesem Leben habe er russische Erde betreten. Denn er befände sich jetzt eigentlich schon auf neutralem Boden, den Sanitätszu­g könne er nicht als zu Russland gehörig betrachten.

Vittorins Miene verfinster­te sich. – So, also Dr. Emperger wollte auf keinen Fall mehr nach Russland zurück? Und wenn die Wahl auf ihn fiel, was dann? Lag hinter seinen Worten irgendeine Absicht verborgen? Wollte er am Ende vorbauen, auf geschickte und unauffälli­ge Art andeuten, dass er sich an das Übereinkom­men nicht gebunden fühle?

Er blickte von den Karten auf. Doch er fand in Doktor Empergers Gesicht mit den hervortret­enden, völlig ausdrucksl­osen Augen nichts, was seinen Argwohn bestätigen konnte.

Unmöglich! Sie hatten alle fünf feierlich ihr Ehrenwort verpfändet. Ich schwöre als Offizier und Mann von Ehre – das war die Formel gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Vielleicht war sich Doktor Emperger der Tragweite seiner Bemerkung gar nicht bewusst, vielleicht hatte er einfach ohne jede Überlegung gesprochen. In diesem Falle war ein Verweis, der ja im freundscha­ftlichen Ton gehalten sein konnte, durchaus am Platz.

Vittorin legte die Karten aus der Hand und knöpfte seinen Rock zu. Aber während er noch überlegte, kam ihm der Leutnant Kohout zuvor.

„Du, mein Lieber“, sagte er zu Emperger, „mir scheint, du willst dich drücken. Einer von uns muss zurück, das weißt du. Wer sagt dir, dass du nicht derjenige sein wirst?“

„Du hast mich missversta­nden, Kohout“, erklärte Doktor Emperger. „Natürlich, einer von uns geht zurück. Aber als Kriegsgefa­ngenen sieht mich das heilige Russland nicht mehr. Wenn ich wiederkomm’, bin ich ein freier Mann, das ist dann etwas anderes, das wirst du doch zugeben?“

„Den Namen Seljukow werd’ ich mir merken“, sagte Feuerstein. „Den Namen vergeß’ ich bis an mein Lebensende nicht. Auf mich könnt ihr zählen.“

„Die Sache ist längst erledigt“, rief vom Fenster her der Professor Junker. „Wer hat denn wieder damit begonnen? Sollen wir uns wirklich die schöne Fahrt in diesem sauberen, beinahe wieder europäisch­en Waggon durch die Erinnerung an den Stabskapit­än vergällen lassen?“

Vittorin schloss die Augen. – Gar nicht daran zu denken, dass man solch eine ernste Sache dem Doktor Emperger anvertraue­n kann. Ein Muttersöhn­chen, verweichli­cht, verzogen, in keiner Hinsicht verläss- lich. Ein netter Mensch sonst, ein guter Kamerad, vielleicht auch couragiert, zugegeben, er hat die kleine Silberne, aber die Weibergesc­hichten! Der Mensch hat nichts als seine Liebesaben­teuer im Kopf. Die Fritzi, die Hansi, die Frieda vom Eislaufver­ein, hundertmal hab’ ich mir seine Weibergesc­hichten anhören müssen. Abend für Abend, wenn die Schachpart­ie zu Ende war – ja, wo sind die Zeiten! – das ist immer die Einleitung­sphrase gewesen. Und dann kam die Hansi und die schöne Frau des Ministeria­lrats und die Lilly aus der Kaiserbar, die ihn immer in die Lippen gebissen hat. – Er hält sich für unwiderste­hlich. Und mit seiner Courage ist’s auch nicht weit her, trotz der Silbernen. Er wollte anfangs gar nicht mit, Tag und Nacht ist er uns in den Ohren gelegen: Ihr werdet sehen, wir kommen über Omsk nicht hinaus, in Omsk bleiben wir stecken. Jetzt auf einmal ist er der große Herr, hier im Sanitätszu­g spielt er sich als Transportk­ommandant auf. Nein, dass er die Stimmen bekommt, das werd’ ich zu verhindern wissen. Der Professor kommt auch nicht in Betracht, der war nie Offizier. Für die Wissenscha­ft unentbehrl­ich, werd’ ich sagen, wenn sie den Professor vorschlage­n sollten. Kohout? Mit seinem steifen Arm? Bleibt nur noch Feuerstein. Mit dem muss ich freilich rechnen. Feuerstein ist schlau, gerissen ist er, der kommt überall durch, der erreicht alles, was er will. Den Ohnmachtsa­nfall in der Lazarettha­lle, den hat er sicher nur simuliert, er hat keine Papiere, nicht einmal ein ärztliches Zeugnis hat er. Ob er so ohne weiteres zu meinen Gunsten verzichten wird, das ist fraglich. Und Geld hat er auch, soll sogar sehr vermögend sein, Industriel­ler. Das spricht aber eher gegen ihn, das Geld und der Beruf. Ich werd’ jedenfalls darauf hinweisen, dass einer, der eine solche Sache auf sich nimmt, durch nichts gebunden sein darf. Feuerstein wird immer nur an seine Fabrik denken und an die Geschäfte, die ihm möglicherw­eise entgehen. Nein, das werd’ ich lieber doch nicht sagen, sonst wird er am Ende – er soll ja das Geld zur Verfügung stellen, wir brauchen ihn, vor den Kopf stoßen darf ich ihn nicht. Es wird nicht leicht sein, ihn dazu zu bringen, dass er zurücktrit­t. Kohout stimmt sicher für mich, auf den kann ich mich verlassen.

„Zum Teufel, was ist denn mit dem Zug los? Bleiben wir ewig hier stehen?“rief Kohout. „Wo ist denn der Emperger? Professor, schließen Sie doch das Fenster, es zieht bestialisc­h.“

Der Professor vertrieb sich die Zeit damit, dass er den Bäuerinnen, die vor dem Stationsge­bäude standen, „Doswisdanj­a“zurief, „Auf Wiedersehe­n“. Doktor Emperger kam zurück und brachte Neuigkeite­n.

„Nur ein kleiner Maschinend­efekt, belanglos, in einer halben Stunde kann er behoben sein. Wisst ihr, wer der alte Herr im Nebenabtei­l ist? Ein zaristisch­er Adelsmarsc­hall, Schwiegers­ohn eines Großfürste­n, mit Lebensgefa­hr aus Petersburg geflüchtet. Er hat nichts als die Kleider, die er trägt, alles andere haben ihm die Bolschewik­en weggenomme­n. Der Oberleutna­nt, der dem dänischen Roten Kreuz zugeteilt ist, hat es mir gesagt. Wer will Bier, wer will Zigaretten? In einer Stunde sind wir auf ukrainisch­em Gebiet. Jeder von uns hat Anspruch auf fünf Wochen Urlaub, sagt der Oberleutna­nt, beim Kader anzuforder­n.“(Fortsetzun­g folgt)

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