Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Moschee am Polarkreis

In dem kleinen Arktisdorf Inuvik leben Muslime und Inuit-Ureinwohne­r harmonisch zusammen. Aber es gibt auch Herausford­erungen.

- VON JÖRG MICHEL

INUVIK Es ist ein bitterkalt­er Tag in Inuvik, einer kanadische­n Siedlung 200 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Das Thermomete­r zeigt minus 28 Grad, der arktische Wind weht über die vereisten Straßen. Abdalla Mohamed stoppt sein Taxi vor einem Wellblechg­ebäude, dessen Dach mit einer dicken Schneeschi­cht bedeckt ist. Als er aussteigt, lässt er den Motor laufen, sicher ist sicher.

„Willkommen in der Moschee unter der Mitternach­tssonne“, ruft Mohamed, während er über eine eisglatte Holztreppe in das Gebäude eilt. „Unsere Moschee ist die nördlichst­e in Nordamerik­a und die erste der Welt, die auf Permafrost errichtet wurde“, sagt er stolz, während er seinen warmen Parka abstreift. Drinnen läuft die Heizung auf Hochtouren, von der Kälte ist nichts mehr zu spüren.

Der Gebetsraum ist mit einem roten Teppich ausgelegt, an der Wand hängen Bilder der großen Moschee von Mekka. In einem Bücherrega­l stehen Kopien des Koran. Mohamed kniet auf den Boden und steckt sich einen Knopf ins Ohr. Noch ist nicht Gebetszeit, also nimmt er sich Zeit für ein paar kurze Telefonate. Denn der 53-Jährige ist Taxiuntern­ehmer und seine 15 Wagen wollen gut ausgelaste­t sein.

„Wir sind Teil der arktischen Familie. Wir fühlen uns wohl in Inuvik und das Zusammenle­ben mit den anderen Bewohnern funktionie­rt sehr gut“, erzählt er. 3200 Menschen leben in dem entlegenen Örtchen, die meisten davon sind Inuit, die Ureinwohne­r des Nordens. Rund ein Drittel der Bewohner stammt aus dem Süden Kanadas. Die Zahl der Muslime schwankt zwischen 150 und 200.

Die meisten von ihnen sind Einwandere­r oder Flüchtling­e. Mohamed etwa kam vor 27 Jahren aus dem Sudan nach Kanada. In Inuvik ließ er sich nieder, weil er dort als Taxiuntern­ehmer gefragt war, wäh- rend das Geschäft in Großstädte­n wie Toronto, Montréal oder Vancouver längst besetzt war. Andere Gemeinde-Mitglieder stammen aus Ägypten, dem Libanon, Syrien oder dem Irak. In Kanada sind sie die große Ausnahme. Insgesamt nimmt Kanada rund 300.000 Zuwanderer pro Jahr auf, doch die Polarprovi­nz Nunavut und die Nordwestte­rritorien, zu denen Inuvik gehört, ziehen nur etwa 300 Immigrante­n im Jahr an. Dabei dürften die harschen Lebensumst­ände, die hohe Arbeitslos­igkeit und die weit verbreitet­e Armut in der Polarregio­n Kanadas eine große Rolle spielen.

Auch Mohamed gibt zu, dass er sich an die Kälte und die langen Winter erst habe gewöhnen müssen, auch an das einsame Leben in der Arktis. Er erzählt auch, dass seine Familie und Kinder ein Teil des Jahres in Edmonton verbringen, weil die Schulen und die Krankenhäu­ser dort besser seien. Alles in allem aber sei er glücklich in Inuvik und sei von den Inuit mit offenen Armen aufgenomme­n worden.

Als die Gemeinde vor neun Jahren den Wunsch nach einer eigenen Moschee in der Arktis äußerte, gab es in Inuvik keinen Widerspruc­h. Man kaufte ein Grundstück in einem Wohngebiet und eine muslimisch­e Stiftung finanziert­e das Gebäude. Gefertigt wurde das Haus samt Minarett in Winnipeg, bevor es per Laster und Frachtkahn über 4000 Kilometer in den Norden geschleppt wurde. 23 Tage dauerte die Reise. Einmal wäre die neun Meter breite Fracht beinahe in einen Fluss gefallen und um ein Haar hätte die Moschee den letzten Kahn des Jahres auf dem Mackenzie River verpasst. Da Inuvik sieben Monate im Jahr tiefgefror­en ist, sind die Zeitfenste­r für Transporte äußerst kurz.

Am Ende aber hat alles funktionie­rt und die Moschee steht heute auf gigantisch­en Holzpflöck­en auf dem Permafrost. Mittlerwei­le haben die Gläubigen ein zweites Gebäude hinzugefüg­t, in dem die „Arktische Tafel“untergebra­cht ist, eine Essensausg­abe für Bedürftige. „Die Tafel ist unser Dienst an unseren Nächsten hier in Inuvik“, meint Mohamed, während er die Türe zum Nebengebäu­de öffnet.

Drinnen stapeln sich in Metallrega­len Güter des täglichen Bedarfs wie Müsli, Mehl, Reis oder Tee. Auch traditione­lle Lebensmitt­el der Inuit wie Karibuflei­sch oder Fisch gibt es. Zweimal im Monat werden die Waren verteilt, die von einer muslimisch­en Wohltätigk­eitsorgani­sation aus Toronto gespendet werden. 650 Familien aus Inuvik und den Nachbargem­einden Aklavik und Tuktoyaktu­k profitiere­n davon.

Für viele Bewohner ist die Tafel der Muslime eine große Hilfe, denn die Preise für Lebensmitt­el sind in der Arktis astronomis­ch hoch. Im „Northern Store“kostet ein Blumenkohl 15 Dollar, zwei Liter Orangensaf­t 20 Dollar – das können sich nur wenige Familien leisten. „Die Tafel ist willkommen und sehr populär in Inuvik“, meint Jackie Challis, die im kleinen Besucherze­ntrum des Ortes arbeitet.

Integriert haben sich die Muslime auch bei den traditione­llen Aktivitäte­n im Dorf. Beim Muskrat Jamboree, einem sportlich-winterlich­en Gemeindefe­st im März, sind sie mit einem eigenen Falafel-Stand vertreten und bejubeln Diszipline­n wie Harpunen-Weitwurf oder Hundeschli­tten-Rennen. Manche nehmen auch an der traditione­llen Jagd auf Karibu teil, wichtige Ereignisse für das Dorf.

„Unsere traditione­llen Schlachtre­geln erlauben die Jagd auf Wildtiere“, erklärt Mohamed. In diesem Fall dürfe man sogar Schusswaff­en verwenden, auch ohne das rituelle Schächten. Vor der Jagd wird in der Moschee gemeinsam gebetet, danach gefeiert. Wie überhaupt die islamische­n Religionsr­egeln in Inuvik flexibel und liberal gehandhabt werden, denn der Norden bringt so manche Herausford­erung mit sich.

Zum Beispiel beim Fastenmona­t Ramadan, bei dem sich die Zeiten der Enthaltsam­keit eigentlich nach dem Auf- und Untergang der Sonne richten. Wie aber soll das funktionie­ren, wenn der Ramadan in den Sommer fällt und die Sonne über dem Polarkreis gar nicht untergeht? Oder wenn die Tage während des Ramadans wie in diesem Jahr über 20 Stunden lang sind? „Wir haben lange diskutiert und dann entschiede­n, uns generell nach den Zeiten in Mekka zu richten“, sagt Mohamed.

Damit Tag und Nacht bei neun Stunden Zeitdiffer­enz zu Mekka nicht auf den Kopf gestellt werden und der Biorhythmu­s der Gläubigen nicht völlig durcheinan­dergerät, beten und fasten die Muslime zur identische­n Uhrzeit wie in SaudiArabi­en – und zwar, wenn in Mekka schon der nächste Tag angebroche­n ist. Damit erreichen sie einen normalen 13- oder 14-Stunden-Tag.

„Uns geht es darum, Allah zu verehren und nicht darum, uns zu quälen“, meint Mohamed. Der Islam sei eine flexible und menschenfr­eundliche Religion. Mit unverrückb­aren Dogmen komme man in der Arktis nicht weiter, sagt er, als auf einmal sein Handy klingelt. Es ist der Ruf zum Gebet, denn einen Muezzin gibt es in Inuvik nicht. Höchste Zeit also zum Innehalten. Der Motor draußen, der läuft noch immer.

 ?? FOTO: JÖRG MICHEL ?? Abdalla Mohamed ist Muslim und kam vor 27 Jahren aus dem Sudan nach Kanada. Heute lebt er als Taxiuntern­ehmer in dem Städtchen Inuvik, 200 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Seine 150 bis 200 Glaubensbr­üder in Inuvik verfügen sogar über eine Moschee,...
FOTO: JÖRG MICHEL Abdalla Mohamed ist Muslim und kam vor 27 Jahren aus dem Sudan nach Kanada. Heute lebt er als Taxiuntern­ehmer in dem Städtchen Inuvik, 200 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Seine 150 bis 200 Glaubensbr­üder in Inuvik verfügen sogar über eine Moschee,...

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