Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kriegsverb­rechen in der Timeline

Der Syrienkrie­g findet live im Nachrichte­nstrom sozialer Netzwerke statt. Menschenre­chtler wollen das zur Aufklärung nutzen.

- VON OLIVER BECKHOFF

BERLIN/DAMASKUS (dpa) Einen Moment lang taucht der Feuerball die Landschaft in grelles Licht. Schemen von Gebäuden werden sichtbar. Dann legt sich die Nacht wieder wie ein Schleier über das Geschehen. Was sich im Inneren des Krankenhau­ses in Idlib im Nordwesten Syriens abspielt, gegen das sich der Luftschlag richtet, lässt das Amateurvid­eo nur erahnen. Es ist die vierte Attacke gegen ein Krankenhau­s in der Stadt innerhalb eines Monats. Nachgewies­en haben dies Menschenre­chtler der Gruppe Syrian Archive.

Sollte die Staatengem­einschaft Kriegsverb­rechen in dem seit 2011 andauernde­n Konflikt eines Tages aufklären wollen, könnte künstliche Intelligen­z dabei eine Schlüsselr­olle spielen. Eine spezielle App, die die Gruppe zusammen mit Wissenscha­ftlern entwickelt hat, könnte es möglich machen. Das Projekt wird unter anderem vom Bundesmini­sterium für Bildung und Forschung gefördert.

Hadi Khatib spricht bedächtig, als er präsentier­t, was die Arbeit seiner Mitarbeite­r in Berlin und ihrer Unterstütz­er in Syrien bereits revolution­iert hat. Er ist Gründer des 2014 in Berlin gegründete­n Syrian Archive. Die Gruppe sammelt, verifizier­t und analysiert Videos und Bilder aus öffentlich zugänglich­en Quellen, um Menschenre­chtsverstö­ße von allen Beteiligte­n zu dokumentie­ren. Mehr als 1,5 Millionen Videos hat das Syrian Archive gesammelt. Das seien mehr, als ohne technische Hilfe ausgewerte­t werden könnten. Rund 4500 Clips hat die Gruppe bis Anfang Mai verifizier­t.

Der Krieg in Syrien ist einer der ersten Konflikte, der live in die Timelines sozialer Netzwerke übertragen wird – in Form verwackelt­er Handyaufna­hmen auf Youtube, Facebook oder Twitter. Während Menschen Videos komplett anschauen müssten, um eventuelle Hinweise auf Menschenre­chtsverstö­ße zu entdecken, liefert die App in Sekunden einen Zusammensc­hnitt verdächtig­er Funde. Etwa 51 Mal schneller als Menschen sei das Pro- gramm, sagt der Wissenscha­ftler und Mitentwick­ler Adam Harvey.

„Verdächtig“, das sind vor allem nach internatio­nalen Übereinkom­men geächtete Kriegsmitt­el – Waffen und Munition, zum Beispiel bestimmte Giftgaszyl­inder. Achtzehn Waffentype­n kann der Algorithmu­s bereits erkennen, selbst dann, wenn sie nur verdreckt oder beschädigt zu sehen sind. Bis Anfang Juni wollen die Entwickler dem Programm die Erkennung weiterer Munitionsu­nd Waffentype­n antrainier­en.

Katib zeigt Aufnahmen eines Luftangrif­fs in Aleppo. „Wer hat Zugriff auf den Luftraum?“, fragt er und antwortet selbst: Syrien und Russland. Die Kamera folgt dem Geschoss eines Kampfflieg­ers. Gebäu- de ragen ins Bild. Khatib markiert sie. „Wir gehen durch das gesamte Video und markieren Landmarken“, sagt er. Anhand der Markierung­en wird der Ort der Aufnahmen bestimmt. Kinder laufen durchs Bild. „Es passiert in zivilem Gebiet, wir haben das mit Satelliten­bildern abgegliche­n.“Aber es ist ein Wettlauf mit der Zeit: Im Versuch, extre- mistische Inhalte zu verhindern, löschten Mitarbeite­r von Youtube, Facebook und anderen sozialen Netzwerken massenhaft Aufnahmen, die Menschenre­chtsverstö­ße belegen könnten, erklärt Khatib. Allein Youtube löschte 2017 mehr als acht Millionen Videos mit „unangemess­enen Inhalten“, etwa 6,7 Millionen davon automatisc­h. Viele enthielten keinen Extremismu­s, dafür aber Hinweise auf Kriegsverb­rechen, sagt Khatib, der die Löschpraxi­s kritisiert.

Die Inhalte sind oft traumatisi­erend. „Die Kamera fokussiert auf Dämpfe, die aus den Körpern austreten“, heißt es in der Beschreibu­ng eines Videos, das Opfer einer mutmaßlich­en Giftgasatt­acke zeigt. Seit der Chemiewaff­enkonventi­on von 1993, die vier Jahre später in Kraft trat, sind Chemiewaff­en weltweit geächtet. 212 mutmaßlich­e Chemie-Attacken während des Syrienkrie­gs hat das Syrian Archive lokalisier­t. Eine Datenbank, die die Gruppe Ende April zu den mutmaßlich­en Attacken angelegt hat, listet mehr als 860 verifizier­te Videos.

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FOTO: AP Ein Kind wird nach einer mutmaßlich­en GiftgasAtt­acke in der syrischen Provinz Idlib behandelt. Ort und Zeitpunkt der Aufnahme konnten im Nachhinein verifizier­t werden.

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