Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Lebensmitt­el Beine bekommen

Die Wohnungsau­fsicht der Stadt wird rund 100 Mal im Jahr zu verwahrlos­ten Wohnungen gerufen. In allen Bildungsun­d Altersklas­sen gibt es Bürger, die ihr Zuhause zumüllen. Im Alltag führen sie teilweise ein unauffälli­ges Leben.

- VON HENDRIK GAASTERLAN­D

NEUSS Es gibt eine vorsichtig­e Schätzung, dass 1,5 bis zwei Prozent der Deutschen in verwahrlos­ten Häusern und Wohnungen leben. Die Menschen sind dann nicht unordentli­ch oder haben länger keinen Staub mehr gewischt, sondern meist den Überblick in ihren eigenen vier Wänden verloren. Verwahrlos­t bedeutet, sie führen ein Leben mit Ungeziefer, Nagetieren oder Maden unter gesundheit­sschädlich­en Bedingunge­n.

Auch in Neuss sind solche Problemfäl­le keine Seltenheit. Thomas Hofer von der Wohnungsau­fsicht der Stadt berichtet, dass er und seine Kollegen rund 100 Mal im Jahr – meist von Nachbarn, der Polizei oder Rettungskr­äften – erst über Gestank und eine Vermüllung bei Bürgern informiert werden und dann in Einbeziehu­ng des Gesundheit­samts ausrücken. Hofer macht diesen Job seit 2008 und meint, dass er in den vergangene­n zehn Jahren wohl „alles schon gesehen hat, was man sich an verwahrlos­ten Wohnungen vorstellen kann“. Wie weit eine Vermüllung gehen kann, beschreibt er in einem Beispiel: „In einem Einfamilie­nhaus wurden bei einer Räumung einmal 30 Tonnen Lebensmitt­elreste herausgeho­lt. Die Lebensmitt­el hatten fast schon eigene Beine.“

Die Beseitigun­g des Mülls führen die Mitarbeite­r der Stadt nicht selbst aus, sie leiten den Auftrag an Fachfirmen weiter. Sollten die betroffene­n Menschen den Zugang zu ihren Wohnungen verweigern, können über eine Ordnungsve­rfügung Platzverwe­ise und sogar Hotel-Zuweisunge­n ausgesproc­hen werden. „Damit wir freie Hand haben. Man muss verstehen, dass es für die Leute emotional nicht einfach ist, wenn Fremde in ihrer Wohnung Privatsach­en wegschmeiß­en“, sagt Hofer. Er nennt einen Fall, bei dem eine Firma erst eine Wohnung räumte, der Bewohner aber über Nacht die ver- dreckten Sachen aus dem Container vor der Haustüre wieder zurück in die Wohnung holte: „Das war für uns doppelte Arbeit.“Nach Abschluss einer Maßnahme versucht die Stadt, sich die Kosten vom Eigentümer oder Mieter zurückzuho­len. Dies können 500 Euro, im Extremfall auch 50.000 Euro sein.

Einsicht für eine Säuberungs­aktion zeigen die Betroffene­n trotz der Gesundheit­sgefahr nicht immer. Manchmal seien sie zumindest kooperativ. „Ein ,Danke’ habe ich aber seit 2008 erst einmal gehört. Da hat sich jemand dafür bedankt, dass wir ihm die Augen geöffnet hätten“, erzählt Hofer. Wer denkt, nur sozialschw­ächere Menschen würden im Müll leben, der täuscht sich. In allen Bildungs- und Altersklas­sen kämen solche Fälle vor. „Die Menschen können sich sehr gut verstellen. Sie gehen teilweise ganz normal zur Arbeit und leben zu Hause im Dreck. Man sieht es ihnen nicht an“, sagt Hofer. Vornehmlic­h seien es aber Alleinsteh­ende, sollten Kinder mit im Haushalt leben, wird auch das Jugendamt eingeschal­tet.

Die Wohnungsau­fsicht wird meistens benachrich­tigt, wenn es schon zu spät ist. Sie gibt daher den Tipp, sollte sich das Aussehen oder das Verhalten der Nachbarn verändern oder es anfangen im Flur zu stinken, sie rechtzeiti­g bei Verdachtsf­ällen zu informiere­n. Eine Entmüllung ist dann nicht immer ein Einzelfall. Es kam vor, dass die Wohnungsau­fsicht alle drei bis vier Monate bei derselben Person die Wohnung räumte. Ursachen können persönlich­e Schicksale oder psychische Grunderkra­nkungen sein. „Die Menschen sind teilweise kaufsüchti­g. Wenn sie im Supermarkt Angebote sehen, müssen sie sie unbedingt kaufen, obwohl sie so viele Lebensmitt­el gar nicht essen können. Wenn sie dann noch zu faul sind, den Müll herauszubr­ingen, ist es schnell geschehen“, erklärt Hofer, der auch zu verrümpelt­en Wohnungen gerufen wird. „Wenn sich jemand nicht von Büchern oder Elektrosch­rott trennen kann und seine Wohnung damit zustellt, ist das kein Fall für uns, weil keine Gesundheit­sgefahr besteht.“

 ?? FOTOS: STADT ?? Pfandflasc­hen wohin man auch schaut. Der Bewohner hat nur einen schmalen Durchgang gelassen.
FOTOS: STADT Pfandflasc­hen wohin man auch schaut. Der Bewohner hat nur einen schmalen Durchgang gelassen.
 ??  ?? Der Blick in den Kühlschran­k offenbart oftmals unappetitl­iche Bilder.
Der Blick in den Kühlschran­k offenbart oftmals unappetitl­iche Bilder.
 ??  ?? Man möchte nicht wirklich wissen, was sich auf dieser Matratze befindet.
Man möchte nicht wirklich wissen, was sich auf dieser Matratze befindet.
 ??  ?? In vielen Wohnungen stapeln sich Kartons und Verpackung­en.
In vielen Wohnungen stapeln sich Kartons und Verpackung­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany