Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wenn Lebensmittel Beine bekommen
Die Wohnungsaufsicht der Stadt wird rund 100 Mal im Jahr zu verwahrlosten Wohnungen gerufen. In allen Bildungsund Altersklassen gibt es Bürger, die ihr Zuhause zumüllen. Im Alltag führen sie teilweise ein unauffälliges Leben.
NEUSS Es gibt eine vorsichtige Schätzung, dass 1,5 bis zwei Prozent der Deutschen in verwahrlosten Häusern und Wohnungen leben. Die Menschen sind dann nicht unordentlich oder haben länger keinen Staub mehr gewischt, sondern meist den Überblick in ihren eigenen vier Wänden verloren. Verwahrlost bedeutet, sie führen ein Leben mit Ungeziefer, Nagetieren oder Maden unter gesundheitsschädlichen Bedingungen.
Auch in Neuss sind solche Problemfälle keine Seltenheit. Thomas Hofer von der Wohnungsaufsicht der Stadt berichtet, dass er und seine Kollegen rund 100 Mal im Jahr – meist von Nachbarn, der Polizei oder Rettungskräften – erst über Gestank und eine Vermüllung bei Bürgern informiert werden und dann in Einbeziehung des Gesundheitsamts ausrücken. Hofer macht diesen Job seit 2008 und meint, dass er in den vergangenen zehn Jahren wohl „alles schon gesehen hat, was man sich an verwahrlosten Wohnungen vorstellen kann“. Wie weit eine Vermüllung gehen kann, beschreibt er in einem Beispiel: „In einem Einfamilienhaus wurden bei einer Räumung einmal 30 Tonnen Lebensmittelreste herausgeholt. Die Lebensmittel hatten fast schon eigene Beine.“
Die Beseitigung des Mülls führen die Mitarbeiter der Stadt nicht selbst aus, sie leiten den Auftrag an Fachfirmen weiter. Sollten die betroffenen Menschen den Zugang zu ihren Wohnungen verweigern, können über eine Ordnungsverfügung Platzverweise und sogar Hotel-Zuweisungen ausgesprochen werden. „Damit wir freie Hand haben. Man muss verstehen, dass es für die Leute emotional nicht einfach ist, wenn Fremde in ihrer Wohnung Privatsachen wegschmeißen“, sagt Hofer. Er nennt einen Fall, bei dem eine Firma erst eine Wohnung räumte, der Bewohner aber über Nacht die ver- dreckten Sachen aus dem Container vor der Haustüre wieder zurück in die Wohnung holte: „Das war für uns doppelte Arbeit.“Nach Abschluss einer Maßnahme versucht die Stadt, sich die Kosten vom Eigentümer oder Mieter zurückzuholen. Dies können 500 Euro, im Extremfall auch 50.000 Euro sein.
Einsicht für eine Säuberungsaktion zeigen die Betroffenen trotz der Gesundheitsgefahr nicht immer. Manchmal seien sie zumindest kooperativ. „Ein ,Danke’ habe ich aber seit 2008 erst einmal gehört. Da hat sich jemand dafür bedankt, dass wir ihm die Augen geöffnet hätten“, erzählt Hofer. Wer denkt, nur sozialschwächere Menschen würden im Müll leben, der täuscht sich. In allen Bildungs- und Altersklassen kämen solche Fälle vor. „Die Menschen können sich sehr gut verstellen. Sie gehen teilweise ganz normal zur Arbeit und leben zu Hause im Dreck. Man sieht es ihnen nicht an“, sagt Hofer. Vornehmlich seien es aber Alleinstehende, sollten Kinder mit im Haushalt leben, wird auch das Jugendamt eingeschaltet.
Die Wohnungsaufsicht wird meistens benachrichtigt, wenn es schon zu spät ist. Sie gibt daher den Tipp, sollte sich das Aussehen oder das Verhalten der Nachbarn verändern oder es anfangen im Flur zu stinken, sie rechtzeitig bei Verdachtsfällen zu informieren. Eine Entmüllung ist dann nicht immer ein Einzelfall. Es kam vor, dass die Wohnungsaufsicht alle drei bis vier Monate bei derselben Person die Wohnung räumte. Ursachen können persönliche Schicksale oder psychische Grunderkrankungen sein. „Die Menschen sind teilweise kaufsüchtig. Wenn sie im Supermarkt Angebote sehen, müssen sie sie unbedingt kaufen, obwohl sie so viele Lebensmittel gar nicht essen können. Wenn sie dann noch zu faul sind, den Müll herauszubringen, ist es schnell geschehen“, erklärt Hofer, der auch zu verrümpelten Wohnungen gerufen wird. „Wenn sich jemand nicht von Büchern oder Elektroschrott trennen kann und seine Wohnung damit zustellt, ist das kein Fall für uns, weil keine Gesundheitsgefahr besteht.“