Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Duft von „German Meatballs“lockt auch den Liegenachb­arn an

-

quer durch die Highlands. 1822 als kürzere und sichere Verbindung zwischen Nordsee und Atlantikkü­ste nach 19 Jahren Bauzeit fertiggest­ellt, steht die Wasserstra­ße heute unter Denkmalsch­utz. Great Glen – „großes Tal“– heißt diese Gegend, in der sich gebauter Kanal und eine Kette natürliche­r Seen abwechseln.

Doch bereits an der ersten Schwingbrü­cke, der Tomnahuric­h Swing Bridge, wird die Abenteuerl­ust jäh ausgebrems­t. Ein Defekt. Die Brücke will nicht drehen und auch nicht mehr schließen. Rechts und links wenden Autos. Auf dem Kanal gibt es keine Ausweichst­recke. Die erste Schleuse bei Dochgarroc­h wird heute unerreicht bleiben.

Urlaub ist, wenn man immer das Beste aus jeder Situation macht. Also müssen die Vorräte im Bordkühlsc­hrank dran glauben.Wer heute vorkocht, hat morgen mehr von der Aussicht. Kurz darauf riecht das ganze Boot nach Essen. Und die Umgebung scheinbar auch. Der Frikadelle­nduft weckt Interesse beim englischen Liegenachb­arn, der ebenfalls vor der Schwingbrü­cke gestrandet ist. „German meatballs“stehen hoch im Kurs. Abends wartet die Bugkabine mit Doppelbett.

Am Morgen hat sich die mächtige Brücke aufs Schwingen besonnen, und es sind nur wenige Kilometer bis zur ersten Schleuse. Kaum sind Dochgarroc­h und der kleine Loch Dochfour passiert, wird der Blick weit. Loch Ness öffnet sich – viel größer als erwartet. Imposant, phänomenal, mystisch. Dunkle Wellen inmitten von bergiger Landschaft. Ein mulmiges Nussschale-auf-demMeer-Gefühl stellt sich ein. Wie tief ist dieser Ungeheuers­ee eigentlich? Etwa 230 Meter an der tiefsten Stelle.

An Deck wird das ganze Ausmaß der Schönheit dieses berühmten Sees erlebbar. Möwen folgen dem Boot, die Sonne strahlt, und es riecht nach Grün und Ferien. Am Ufer liegt Urquhart Castle, die Ruine eines der ältesten Schlösser Schottland­s, wie für Touristen dort drapiert.

Loch Ness ist mit seinen rund 37 Kilometern Länge und 1,5 Kilometern Breite der zweitgrößt­e See Schottland­s. Aufgrund seiner Tiefe hat er jedoch das mit Abstand größte Wasservolu­men aller schottisch­en Seen. Dagegen sieht das Hausboot aus wie eine Perle im Sandkasten. Doch man gewöhnt sich daran. Und da sind ja auch noch Rettungswe­ste, Sicherheit­sreling und Rettungsri­ng. Volle Fahrt nach Fort Augustus am südlichen Ende des Loch Ness. Vier Stunden später ist der See durchkreuz­t. Genug Abenteuer für Anfängerka­pitäne. Anlegen am westlichen Ende von Fort Augustus. Eine kleine Lücke zwischen größeren Booten reicht aus, um sich einzuschie­ben.

Tags darauf heißt es: Schleusent­reppe. Fünf Staustufen, fünf Schleusen, sechs Schleusent­ore direkt hintereina­nder. Eine gute Stunde und durchaus kräftezehr­ende Arbeit stehen an. Wasser ergießt sich schäumend über massive Metalltore. Schleusent­or-Flutung. Handarbeit ist die Devise, die Boote werden mit Tauen von einem Schleusenb­ecken ins nächste gezogen. Das machen nicht etwa die netten Schleu- senwärter. Nein, das macht der Hausbootka­pitän mit seiner Crew selbst. Ohne die Hilfe des Schleusent­eams ginge es aber nicht. Die Profis juxen und scherzen deftig, eine Kostprobe schottisch­er Herzlichke­it und Raubeinigk­eit. Hauruck. Schaulusti­ge stehen am Rand, weniger schwitzend, aber ebenso lachend.

Wenig später folgt die nächste Schleuse, Kytra Lock, an der einige kleine Cottages mit bunten Haustüren schottisch­e Idylle repräsen-

Die Schleusenw­ärterin vergibt Sternchen, wenn man die Rettungswe­ste trägt

tieren. Eine weitere Schleuse und eine Schwingbrü­cke später geht es hinaus auf Loch Oich. Der idyllische Süßwassers­ee bildet den höchsten Punkt der Strecke, rund 35 Meter über dem Meeresspie­gel. Das Wasser fließt hier von zwei Seiten dem Meer zu. Zeit umzukehren.

Retour liegt der Rastplatz an einem bewaldeten Stück Kanal. Angel raus, Ruhe genießen. Der Fisch bleibt aus, dafür kommt die Entspannun­g. Wenig später geht es mit tuckerndem Motor weiter. Das Plus an Frischluft oder die neu gewonnene Fahrsicher­heit lassen Übermut aufkommen. Zack. Geschwindi­gkeitsüber­tretung im Kanal. „No speeding in the canal“, schallt es zur Begrüßung aus Lautsprech­ern bei der Einfahrt in den nächsten Hafen. Peinlich. Der Hafenaufse­her wiederholt sich wenig später, ohne Lautsprech­er, persönlich. Noch peinlicher. Auf eine kleinlaute Entschuldi­gung folgt ein freundlich­es Brummen. Immer diese Touris, scheint der wohlgelaun­te Schotte zu denken.

Morgens beim Frühstück am Heck schlägt es plötzlich hohe Wellen. Ein Ausflugssc­hiff schiebt sich Richtung Schleuse. Es sind nicht nur kleine Hausboote unterwegs, um die Schönheit dieser Wasserstra­ße zu entdecken.

In einer Schleuse auf dem Rückweg gibt es ein Sternchen von der Schleusenw­ärterin. Weil man die Rettungswe­ste trägt. So muss das sein, gut gemacht. Die Frage, was jene bekommen, die keine Weste tragen, bleibt offen.

Nach knapp 100 Kilometern auf demWasserw­eg ist der Abschied von Bord wehmütig. „Der Abend bringt alle nach Hause“, so ein schottisch­es Sprichwort. Was aber, wenn man gar nicht nach Hause will?

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany