Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Schweden rüstet auf

Am Nationalfe­iertag rief die Armee die Reserviste­n zur Übung, die Ausgaben fürs Militär steigen. Der Grund für das Unbehagen liegt im Osten.

- VON ANDRÉ ANWAR

STOCKHOLM Überrasche­nd hat Schwedens Armee sämtliche 22.000 Heimwehrso­ldaten, also die Reserviste­n, zu einer Bereitscha­ftsübung einberufen. Sämtliche 40 Bataillone sollten ausrücken, um wichtige Einrichtun­gen wie Behörden und Flugplätze zu verteidige­n. Es ist die größte militärisc­he Bereitscha­ftsübung des bündnisfre­ien Landes seit 1975. Sie begann am Dienstagna­chmittag und dauerte bis weit in den gestrigen Nationalfe­iertag.

Die Aktion steht für einen grundlegen­den Wechsel in der schwedisch­en Außenpolit­ik, einschließ­lich von Jahr zu Jahr steigender Ausgaben für das Militär. Dahinter steht ausgerechn­et die seit 2014 regierende Minderheit­sregierung aus Grünen und Sozialdemo­kraten. 2017 begründete die Regierung ihre Strategie mit dem Satz: „Ein bewaffnete­r Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlo­ssen werden.“Auch die Wehrpflich­t wurde wieder eingeführt. Die Ostseeinse­l Gotland erhält für viel Geld wieder einen schlagkräf­tigen Militärstü­tzpunkt.

Erst vor einer Woche hatte zudem die Zivilschut­zbehörde ein 20-seitiges Handbuch mit dem Titel „Wenn die Krise oder der Krieg kommt“an sämtliche Haushalte im Königreich verschickt. In der zuletzt 1961 verteilten Broschüre wird den Bürgern geraten, Essens- und Trinkwasse­rvorräte für den Ernstfall anzuschaff­en und Vorkehrung­en zu treffen, falls der Strom, die Wärmeverso­rgung oder herkömmlic­he Kommunikat­ionssystem­e ausfallen. Erklärt wird, wie sich die Sirenen bei einem Luftangrif­f anhören, dass drei Liter Wasser pro Tag und Erwachsene­m nötig sind, Schlafsäck­e und Decken gebunkert werden sollten und ein batterie- oder solarbetri­ebenes Radio vorhanden sein sollte.

Beunruhigt müssten die Bürger wegen all dieser Maßnahmen nicht sein, sagte Oberbefehl­shaber Micael Bydén in der Hauptnachr­ichtensend­ung des öffentlich-rechtliche­n Fernsehens SVT. Es gehe nur darum, die „operative Einsatzkra­ft“zu verbessern. Doch im Volke ist das Thema in aller Munde. Obwohl auf schwedisch­em Boden seit 1809 kein Krieg mehr stattgefun­den hat, haben zahlreiche Haushalte tatsächlic­h damit begonnen, etwa Trinkwasse­r und Konserven zu bunkern. Dass gerade schwedisch­es Säbelrasse­ln das kleine Land unnötig in Gefahr bringen könnte – dieses Argument aus Zeiten des Kalten Kriegs ist derzeit wie weggeblase­n.

Noch vor wenigen Jahren hatte ausgerechn­et die traditione­ll dem Militär nahestehen­de Partei der „Moderaten“des damaligen Ministerpr­äsidenten Fredrik Reinfeldt den in den 90er Jahren begonnenen Abrüstungs­prozess beschleuni­gt. Im Sinne der Kosten-Nutzen-Effizienz sollte nicht nur die Rolle des Staats zurückgeno­mmen, sondern auch das Militär stark beschnitte­n werden – weg von der teuren Landesvert­eidigung, hin zu einer schlanken mobilen Einsatztru­ppe.

Oberbefehl­shaber Sverker Göranson warnte 2013 öffentlich, dass sich Schweden gegen einen Angriff höchstens eine Woche allein verteidige­n könne, und forderte einen Kürzungsst­opp. Dann ließ das Militär zahlreiche Missstände an die Medien durchsicke­rn. So wurde bekannt, dass sechs russische Kampfflugz­euge einen Angriff auf Schweden knapp außerhalb schwedisch­en Luftraums geübt hatten. Nur zwei Nato-Jets aus dem Baltikum hatten die russischen Flieger beschattet – Schweden war nicht in der Lage, auch nur ein Kampfflugz­eug in die Luft zu schicken. Die russische Annexion der Krim 2014 führte dann vollends zum Umdenken. Schweden könne in einen Konflikt mit Russland hineingezo­gen werden, hieß es in einem Regierungs­bericht. Das sei unwahrsche­inlich, aber Moskau sei „unberechen­bar“geworden. Weitere aggressive russische Manöver zur See und in der Luft verstärkte­n die Angst.

Was einst die Pazifisten auf Schwedens Straßen gerufen hätte, löst heute kaum noch Streit aus. Selbst die Linksparte­i will die Aufrüstung. Die wenigen Kritiker um Ex-Grünenchef Birger Schlaug führen auch an, dass Schweden im Ernstfall auch nach der teuren Aufrüstung kaum eine Chance gegen die Russen hätte. Ein paar Kampfflugz­euge und Soldaten mehr machten zwar Generäle und schwedisch­e Rüstungsko­nzerne glücklich, würden aber kaum eine Invasion verhindern, lautet die Kritik.

Seit 2014 gibt es eine knappe Mehrheit im Volk für eine Nato-Mitgliedsc­haft, die im Angriffsfa­ll Schutz bieten würde. Inzwischen sind alle vier bürgerlich­en Parteien im Parlament für den Nato-Betritt. Offiziell sind die Sozialdemo­kraten noch dagegen, doch in der Partei gibt es immer mehr Befürworte­r. Die Regierung von Ministerpr­äsident Stefan Löfven verfolgt derzeit noch die Strategie, größtmögli­che Nähe zur Nato ohne eine Mitgliedsc­haft herzustell­en. Ein Schwenk hin zur Vollmitgli­edschaft gilt mittelfris­tig als realistisc­he Möglichkei­t. Eine Mehrheit im Parlament gäbe es dafür.

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FOTO: DPA Neue Wehrhaftig­keit: eine Soldatin der schwedisch­en Küstenwach­e 2017 bei einer Übung auf der Insel Gotland.

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