Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die andere Sicht auf den Fall Gurlitt
Der Buchautor und Dokumentarfilmer Maurice Philip Remy warf in Düsseldorf dem Staat völliges Versagen vor. Die Behörden hätten nicht erkannt, dass der Kunst-Erbe Cornelius Gurlitt Opfer und nicht Täter war.
DÜSSELDORF Maurice Philip Remy ist eine charismatische Erscheinung. Als er jetzt in der Mayerschen Drostebuchhandlung in Düsseldorf von den Recherchen zu seinem Buch „Der Fall Gurlitt“erzählte, hing das Publikum sofort an seinen Lippen. Ihm zur Seite fügten sich Benedikt Mauer, Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, und Jasmin Hartmann, Provenienzforscherin der Landeshauptstadt, rasch in die Rolle von Stichwortgebern. So hatte Remy freie Bahn, den Vortragsabend selbst zu gestalten.
Er erinnerte daran, wie der „Focus“vor fünf Jahren den „Schwabinger Kunstfund“publik machte, einen vermeintlich eine Milliarde Euro teuren Schatz, der zu fast 50 Prozent aus NS-Raubkunst bestehen sollte, und dass ihn die Geschichte von vornherein nicht überzeugt habe. In der Tat schienen die Zahlen aus der Luft gegriffen zu sein. Für einen „Arte“-Film wies Remy mit zwei Fachleuten nach, dass der Wert der Sammlung nicht zuletzt wegen des hohen Anteils an Grafik allenfalls 120.000 Euro betragen könne. Auch den immensen Anteil an Raubkunst hielt er aus guten Gründen für unwahrscheinlich.
Remy sonnte sich spürbar in dem Gefühl, dass er recht behalten hat. Heute, so sagte er, seien lediglich fünf Werke aus der Sammlung Gurlitt als NS-Raubkunst erkannt worden. Insgesamt, so prophezeite er, würden es weniger als ein Dutzend sein. Angesichts dieses Ergebnisses warf er den Behörden vor, sie hätten Cornelius Gurlitt großes Unrecht angetan: „Der Mann war komplett vorverurteilt worden.“Remy erzählte, wie er seinerseits die Initiative ergriffen habe und für 400.000 Euro zwölf Sachkundige engagieren wollte, die sich mit dem Fall Gurlitt unabhängig befassen sollten. Cornelius Gurlitt habe zugestimmt, doch kurz danach starb er. Der Schwabinger und der damit verbundene Salzburger Kunstfund gingen an den Nachlassverwalter, Remy aber hatte immerhin 40.000 Blatt Kopien und merkte, „dass die Task Force Unsinn erzählte“. Die Task Force war eine Gründung der Bundeskulturbeauftragten zu Gurlitts Lebzeiten, und sie sollte Remy zufolge Gurlitt dazu überreden, seine Sammlung einer Stiftung zu übereignen – obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Er hatte den Kunstschatz von seinem Vater, dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, geerbt und dann und wann ein Werk verkauft, um über Geld für den Lebensunterhalt zu verfügen.
Remy erzählte in Düsseldorf auch von Hildebrand Gurlitt, der oft als „Hitlers Kunsthändler“bezeichnet wurde, der aber als Jude im Dritten Reich wohl nur sein Leben und das seiner Familie retten wollte, indem er Juden Kunst abkaufte und ihnen damit die Flucht ermöglichte. „Gurlitt war kein Nazi“, so befand Remy, und wahrscheinlich hat er recht. Im Übrigen kritisierte er in diesem Zusammenhang den Begriff „Raubkunst“: Gurlitt habe niemandem etwas geraubt, habe nur niedrigere Preise gezahlt, als das unter normalen Umständen möglich gewesen wäre, und sei den überlieferten Dokumenten zufolge fair gewesen.
Remy erzählte von Hildebrand Gurlitt auch aus dessen Düsseldorfer Zeit, als er den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen leitete, so lebendig, als sei er selbst dabei gewesen. Man spürte: Selbst bei unsicherer Faktenlage wollte er ihn verteidigen, ebenso wie Gurlitt junior. Das ging zuweilen auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Allerdings gab Remy mit Blick auf Hildebrand Gurlitt zu: „Es wird nie eine Heldengeschichte daraus.“Immer wieder verwies der Autor auf die 2000 Fußnoten seines Buchs, in denen er seine Quellen nennt. Gegen Ende seines Monologs fasste er seine Befunde zusammen: 1. Die Beschlagnah- mung von Cornelius Gurlitts Sammlung ist ein Justizskandal. 2. Für die Einrichtung einer Task Force gab es keine Rechtsgrundlage. 3. „Die Bilder sind das Hätschelkind des Feuilletons“; Kunst aber habe nur einen kleinen Anteil an den Raubzügen der Nazis; vor allem müsste man über Immobilien, Land- und Forstbesitz sprechen. 4. Die Medien haben versagt, „sie haben ihn, den psychisch Kranken, in den Tod getrieben“. 5. Die deutschen Museen erforschen ihre eigenen Sammlungen nicht unter dem Aspekt möglicher NS-Raubkunst.
Vorwurf fünf wird schon in Düsseldorf widerlegt durch Forschungen in städtischen Instituten wie auch in der Kunstsammlung NRW. Vorwurf vier stimmt nur zum Teil: Die Faktenlage im Fall Gurlitt war lange unklar. Als sich herausstellte, dass Cornelius Gurlitt kein Täter, sondern Opfer war, schwenkten etliche Medien um.
Gastbeitrag Ulla Hahn