Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die siebte Mitbewohnerin
Eine Mitbewohnerin steht kurz vor dem Auszug und wir sind auf der Suche nach einer Nachfolgerin. In den vergangenen Tagen erhielten wir deshalb ständig neue Mails, darunter auch eine von Marie. Ihre Mail wirkte herzlich, sympathisch und außerdem war ihr Text gespickt mit Anspielungen auf die in unserer WG beliebte KänguruTrilogie des Kleinkünstlers MarcUwe Kling. Sie wollte sogar Schnapspralinen mitbringen, das Grundnahrungsmittel des in diesen Büchern beschriebenen Kängurus. Marie hatte uns so überzeugt, dass wir uns vor ihrem Besuch schon sorgten, ob wir unsere Erwartungen an sie vielleicht zu hoch ansetzten.
Begeistert las ich den Text abends sogar ein paar Freunden vor. Unter den Schreiben der zahlreichen WGMitbewohner, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, gehörte dieser Text sicherlich zu den originellsten Bewerbungen. Mit dabei an diesem Abend war auch eine gute Freundin von mir, nennen wir sie Lisa. Sie hat alle diese Menschen ebenfalls kommen und gehen sehen. Seit Studienbeginn gehen wir in der WG der jeweils anderen ein und aus, in unserer sechsköpfigen WG trägt sie schon lange den Beinamen „siebte Mitbewohnerin“. Daher war ihr Besuch am Tag des WG-Castings, wenn auch unangekündigt, nicht überraschend. Wir warteten auf Marie, die bereits ein paar Minuten zu spät war. Währenddessen grüßten wir Lisa aus dem Küchenfenster heraus und ließen sie herein. Sie konnte dann ja mit uns warten.
Während wir sie die Treppe heraufkommen hörten, meldete sich plötzlich eine leise Stimme: Was, wenn Marie eigentlich Lisa war? Als ob. Wer Lisa kannte, wusste: Eine Schauspielerin war nicht an ihr verloren gegangen. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie so etwas so lange für sich behalten könnte, das hatten wir in der Vergangenheit bereits gesehen. Also fragte ich mich letztendlich nur, warum sie ausgerechnet jetzt kam, wo wir doch gleich in Ruhe Marie kennenlernen wollten.
Als statt Lisa jedoch eine Packung Schnapspralinen im Türrahmen erschien, waren wir fassungslos. Marie war tatsächlich Lisas Erfindung, eine fiktive Person, die Lisas Zweitnamen und den Mädchennamen ihrer Oma trug. Wir hatten viel von Marie erwartet – aber nicht, dass sie an diesem Abend WG-Geschich
te schreiben würde.