Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Sie haben von der Lubjanka noch nichts gehört? Nun, Gott schütze Sie, die Lubjanka ist das große allrussisc­he Schlachtha­us, das Hauptquart­ier des Todes. Die Lubjanka ist der Sitz der Moskauer Tscheka.“

Graf Gagarin, der, in wollene Decken gehüllt, hinter dem Ofen saß, hob den Kopf und begann zu sprechen.

„Sie kennen die Lubjanka nicht? Ich aber kenne sie, Gott weiß es. Ich ging hinauf, hatte meinen Passiersch­ein: Abteilung K.R., das heißt: Konterrevo­lution. Und ich frage mich:Wieso denn K.R.? Niemals hat er sich mit Politik befasst. – Vor der Tür steht solch ein Kerl, ein Matrose mit roter Armbinde, läßt mich eintreten. Da sitzt ein Kommissär mit einer Brille, trägt um den Kopf einen Schal gewickelt, vielleicht hat er Zahnschmer­zen. Und ich denke mir: Warum sollte er nicht Mitleid haben, er ist doch auch eine getaufte Seele. – Er nimmt den Passiersch­ein. – ,Womit kann ich Ihnen dienen, Bürger?’ Und ich sage: ,Genosse, ich bin heute morgens aus Petersburg gekommen. Am Dienstag hat man meinen Vater hierher gebracht. Ich möchte Sie fragen, aus welchem Grunde er verhaftet worden ist.’ Der Kommissar schaut in die Liste. – ,Nein. Er ist nicht hier.’ – ,Ich bitte Sie, Genosse, sehen Sie nochmals nach.’ – Er wird ärgerlich. – ,Was wollen Sie, in meiner Liste steht er nicht. Kommen Sie morgen, ich bin, wie Sie sehen, beschäftig­t. Der Nächste!’ – ,Aber man hat mich hierher geschickt. Der Akt muß bei Ihnen sein.’ Er schlägt mit der Faust auf den Tisch: ,Sie stehlen mir meine Zeit. Entfernen Sie sich! Der Nächste!’ Er beginnt zu schreiben, beachtet mich nicht weiter.“

Der Rittmeiste­r war aufgestand­en und ging unruhig im Zimmer auf und nieder.

Dann nahm er ein Glas Rotwein vom Tisch und trat auf seinen Kameraden zu.

„Trink, Mitja!“sagte er mit seiner heiseren Stimme. „Trink, du wirst sehen, das Herz wird dir leichter.“

„Draußen warten Leute, Frauen mit verweinten Augen, aber ich bleibe stehen, muss immer daran denken: Unten ist er im Keller, auf der feuchten Erde liegt er und hungert. – Der Kommissar blickt auf: ,Sie sind noch immer hier? Scheren Sie sich zum Teufel! Packen Sie sich?’ – ,Genosse’, sage ich, ,ich bitte Sie –’ Da, in diesem Augenblick kommt einer ins Zimmer, bringt die Zeitung. Der Kommissar nimmt sie, beginnt zu lesen – auf einmal wird er höflich, winkt mich zu sich, verzieht die Lippen, wie Sirup ist seine Stimme. – ,Welch ein glückliche­r Zufall! Ich freue mich wirklich. Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen Auskunft geben zu können. Da, bitte, lesen Sie.’ – Ich nehme die Zeitung, es ist die Iswestija, und da steht es, gleich auf der ersten Seite. – Erschossen heute Nacht auf dem Chotynskif­eld: General S.I. Nelidow, dann kam ein anderer Name, ein Professor, den ich nicht kannte, und dann – ich hielt mich an der Tischkante fest, vor den Augen weißer Nebel, ich fiel zu Boden, hatte nicht einmal Zeit, mich zu bekreuzige­n.“

Der Rittmeiste­r hatte sich eine Zigarette gedreht. Er seufzte, während er sein Feuerzeug zum Brennen brachte.

„Ja, traurig ist Gottes Welt“, sagte er. „Eine Armee von Henkern herrscht über das große, heilige Rußland. Hab’ Geduld, Mitja, wir werden sie zerdrücken wie Eierschale­n. Der Tag wird kommen, an dem man mit geweihtemW­asser ihr Blut von der russischen Erde waschen wird.“

Den ganzen Tag über war der Rittmeiste­r fortgeblie­ben. Erst gegen neun Uhr abends kehrte er durchnässt und durchfrore­n zurück. Er warf seine Lammfellmü­tze auf den Tisch und strich sich das Haar aus der Stirne. Dann bückte er sich, um das Feuer im Ofen zu schüren.

„Es ist so, wie ich gesagt habe“, berichtete er, ohne sich aufzuricht­en. „Die Freiwillig­en habenVerst­ärkung und Artillerie­munition bekommen. Es wird Kämpfe geben. Die Front wacht auf.“

Vittorin begriff, dass das eine schlimme Nachricht war. Vielleicht bedeutete sie, dass es nun überhaupt unmöglich war, hinüberzuk­ommen. Bestürzt wandte er sich dem Grafen Gagarin zu, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Minuten vergingen. Draußen heulte der Schneestur­m.

Graf Gagarin hielt den Kopf zur Seite geneigt und überlegte.

„Nun, Gott mit uns“, sagte er endlich.„Dann also noch heute Nacht.“

Vittorin stand auf.Wenn die Front lebendig wurde, dann bekam die Sache den Charakter eines tollkühnen Wagnisses, das war klar. Und trotzdem – Graf Gagarin war entschloss­en, sein Wort zu halten. Vittorin trat auf ihn zu, er wollte ihm danken, suchte nach Worten – aber der junge russische Offizier wehrte mit einem Lächeln der Verlegenhe­it ab.

„Wozu denn? Was ist denn da schon darüber zu reden? Zwölf Werst, ein kleiner Spaziergan­g.“

„Zwölf Werst, der Teufel hat sie gezählt“, brummte der Rittmeiste­r. „Es sind mehr als zwanzig. Und dann, Mitja, vergiß nicht: der Schneestur­m.“

„Nun also, mögen es zwanzig sein. Wir werden schon nicht erfrieren. Willst du mich schamrot machen, Sserjoscha, willst du, dass ich mein Wort nicht halte? Bei uns am Don haben die Kosaken ein Sprichwort: Wirf dein Herz über den Graben, und dein Pferd springt ihm nach.“

Der Rittmeiste­r zuckte die Achseln und gab keine Antwort.

Es wurde nicht mehr viel gesprochen an diesem Abend. Graf Gagarin traf seine Vorbereitu­ngen. Das Fernglas, die Karte, den Kompass. Ein kleines Fläschchen Kognak. Lebensmitt­el für zwei Tage. Dann prüfte er sorgfältig seinen Smith & Wesson-Revolver und steckte ihn in die Tasche seines grauen Bauernrock­s.

Eine Stunde vor Mitternach­t brachen sie auf. Bei den letzten Hütten derVorstad­t nahm der Rittmeiste­r Abschied.

„Nun geh’, Mitja, und Gott schütze dich.“

Nach russischer Sitte küsste er seinen Freund auf beideWange­n. Dann drückte er Vittorin die Hand.

„Ich habe Ihnen zu danken, für Salz und Brot, für Feuer und Dach. Ich werde es nicht vergessen. Leben Sie wohl!“

Sie gingen. Mit Stroh umwickelte Pfähle, die aus dem Schnee ragten, zeigten ihnen denWeg. Zu ihrer Rechten dehnte sich das schimmernd­e Band des vereisten Flusses. Ein feindselig­er und drohender Mond stand am Himmel.

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