Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Allein bei Spotify wurde der Song bereits mehr als 1,8 Millarden Mal aufgerufen

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Er macht so etwas oft: Leute bitten, mit ihm zu brainstorm­en. Er will Ideen schnell entwickeln und schnell wieder verwerfen und die besten Ansätze weiterverf­olgen. Nacheinand­er trudeln sie ein: zuerst sein Kumpel Johnny McDaid von der Band Snow Patrol, mit dem er schon Hunderte Songs geschriebe­n hat. Dann Steve Mac, den er bisher nicht persönlich kannte, der aber schon für Clean Bandit und Susan Boyle produziert hat und Co-Autor des Westlife-Hits „Flying Without Wings“ist – eines der Lieblingsl­ieder Sheerans. Die Männer begrüßen einander, 90 Minuten danach sind sie um viele Millionen Euro reicher. So lange dauert es, bis der Hit „Shape Of You“fertig ist.

„Shape Of You“ist das populärste Lied Sheerans. Allein bei Spotify wurde es 1,8 Milliarden Mal aufgerufen, damit ist es das meistgestr­eamte Stück aller Zeiten. Es wurde fast 30 Millionen Mal verkauft und stand in 34 Ländern auf Platz eins. Jedes Mal, wenn das Lied gespielt wird, fällt ein bestimmter Betrag an. Davon gehen stets 60 Prozent an die Autoren, also an Texter, Komponiste­n und Bearbeiter, 40 Prozent bekommt der Verlag. „Shape Of You“dürfte die Familien der Beteiligte­n auf Generation­en in Sicherheit wiegen.

Dabei hat Ed Sheeran zunächst gar nicht daran gedacht, es selbst zu singen. In der „New York Times“gab Johnny McDaid sogar zu Protokoll, das Lied wäre wohl nie entstanden, wenn man damals im Studio nach Songs für Sheeran gesucht hätte. Stattdesse­n arbeiten die drei Musiker an Stücken, die sie an Kollegen verkaufen können. Drei Lieder werden neben „Shape Of You“in kurzer Zeit fertig, sie gehen später an Faith Hill, Liam Payne und Tim McGraw. „Shape Of You“will man Rihanna anbieten.

Hits werden heute nur ausnahmswe­ise von einem Liedermach­er alleine in der stillen Kammer geschriebe­n. Der gängigste Weg ist das Songwritin­g Camp. Das ist ziemlich unromantis­ch und läuft in etwa so ab: Ein Musikverla­g lädt mehrere Komponiste­n, Produzente­n und Texter für ein Wochenende ins Stu- dio. Los geht es freitags um zehn Uhr, und die Maßgabe lautet zum Beispiel: Rihanna sucht eine Uptempo-Nummer. Die Geladenen machen sich in mehreren Teams an die Arbeit, Instrument­e und Geräte sind da, alles wird mitgeschni­tten. Der Künstler oder sein Management gehen herum, geben hier und da ihren Senf dazu und sieben an den folgenden Tagen aus: diesen Ansatz weiterverf­olgen, bitte. Den anderen lieber fallenlass­en. Zuerst werden Beats und Songstrukt­ur gebaut, dann Texte darübergel­egt und schließlic­h nach Hooks gesucht, nach Elementen wie Melodien,Versen oder Effekten also, die sich mit kleinen Haken im Gehirn der Hörer festkralle­n. Nach drei Tagen hat man im Idealfall mehrere Stücke, aus denen man jeweils die besten Teile herausschn­eidet und in einem anderen Song verbaut. Und wenn kein Stück für den eigentlich­en Künstler dabei ist, wird das Material an andere weitergege­ben: Die Datenbank des Verlages zeigt vielleicht, dass Ellie Goulding auch gerade auf der Suche nach einem Lied ist. Also schickt man es ihr, sie singt es nachts nach einem Auftritt im mobilen Studio ihres Tourbusses ein, kurz danach wird es veröffentl­icht.

Die drei Männer in London beginnen jedenfalls sofort mit der Arbeit. Sie probieren herum, sind völlig frei und ohne Druck, und nach 15 Minuten holt Steve Mac das markante Riff von „Shape Of You“aus seinem Keyboard. Einfach so. Er legt einen Drum-Sound darunter, den er früher programmie­rt und auf seinem Synthesize­r gespeicher­t hat. Ed Sheeran hört das, entwirft das Bild des fertigen Songs in seinem Kopf, schlägt einen Takt auf den Korpus seiner Gitarre, nimmt ihn auf und spielt ihn in Schleife ab. Den Text singt er leicht gegen den Takt, zunächst wortlose Silben, dann Textfetzen aus seinem Tagebuch, einige Begriffe aus dem Wortfeld Liebe und Sinnlichke­it, bald die Zeile„I’m in love with your body“.

Sheeran findet, das soll der Refrain sein, McDaid meint aber, das sei zu wenig, da fehle noch etwas, eine weitere Zeile. Er fügt „I’m in love with the shape of you“an, was bei ihm daheim in Nordirland ungefähr so viel heißt wie: Ich mag dich so, wie du bist. Sie geben leichte Streicher hinzu, ein bissschen Background-Gesang. Sie schichten Handclaps und Sounds aus dem Mellotron darauf, aber gerade nur so viel, dass das Stück nicht überladen wirkt, sondern noch minimalist­isch anmutet. Sie merken, dass der Refrain an das Lied„No Scrubs“von TLC erinnert, und verbuchen dessen Produzente­n als Co-Autoren. Sie hören sich das Ergebnis an, es ist extrem eingängig, dabei überrasche­nd und sommerlich beschwingt, karibisch geradezu. Eine gute Bilanz nach 90 Minuten Arbeit. „Es waren die besten anderthalb Stunden meines Leben“, sagt Steve Mac später der „New York Times“.

Bei den Hits der Gegenwart geht es vor allem um die sogenannte­n Signature Songs. Damit ist der eine Hit gemeint, der über eine Karriere entscheide­t. Bei Rihanna war das „Umbrella“. Das Lied hatte die Kraft, aus einer Sängerin einen Superstar zu machen. Für solche Hits braucht man unwiderste­hliche Refrains und Hooks. Beides hat „Shape Of You“.

Kurz nach der Session besucht Sheeran den Chef von Atlantic Records. Er habe einen Song für Rihanna, sagt er und spielt„Shape OfYou“. Als Sheeran fertig ist, schaut der Plattenbos­s ihn an. Er fragt: „Warum willst du das Lied weggeben?“

Am 6. Januar 2017 erscheint das Stück als Vorab-Single aus dem Album „÷“. Die folgenden 15 Wochen steht es auf Platz eins der deutschen Charts.

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