Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Sonst haben Sie nichts Außergewöhnliches gesehen?“„Nichts. – Ja, doch: Ordonnanzen, die in das Schulgebäude –“„Sie haben nicht Truppenbewegungen wahrgenommen?“„Nein.“War nicht ein böser und spöttischer Glanz in den Augen des Kommissärs? Der Boden schaukelte unter Vittorins Füßen, die hölzernen Dachsparren schienen sich auf ihn herabzusenken, doch er presste die Zähne zusammen, er behielt Gewalt über sich selbst, er rührte sich nicht und hielt dem Blick stand, sein Wille war stärker als das Fieber. „Vielleicht also ein höheres Kommando, das die weiße Front inspiziert“, sagte der Kommissär nach kurzem Schweigen. „Von welcher Stelle aus haben Sie beobachtet?“„Von dem Dachboden jenes Gehöfts aus, das wir in der vorigen Woche mit Artilleriefeuer belegt haben.“„Es ist Ihnen also gelungen, zwischen den feindlichen Stützpunkten hindurchzukommen?“„Es ist mir gelungen.“„Verluste?“„Keine. Ich ließ meine Leute zurück und ging allein.“
Der Kommissär schwieg. Endlos lang schwieg er. Noch eine Frage? Eine neue Falle? Das Blut brauste in Vittorins Schläfen, seine Zähne schlugen aneinander, in den Knien und in den Gelenken saß ein dumpfer Schmerz. Lange konnte er nicht mehr aufrecht stehen, das fühlte er, vielleicht ein paar Sekunden noch, und dann – „Es ist gut. Ich werde Ihre Meldung weitergeben“, sagte der Kommissär. Es ist elf Uhr nachts. Im Zimmer des Regimentskommandeurs brennt eine Petroleumlampe, über ihr steht eine dicke Wolke von grauem Tabaksqualm. An der Wand hängen Mäntel, Mützen, ein Patronengurt, ein Karabiner. Auf dem Tisch ist eine Karte ausgebreitet, quer über die Karte zieht sich eine doppelte Kette von roten und blauen Fähnchen. Jenseits der Fähnchen, auf dem von konterrevolutionären Truppen besetzten Gebiet, liegt ein Taschenmesser und die silberne Repetieruhr des Regimentskommandeurs.
Drei Männer sitzen um den Tisch und blicken auf die Karte.
Der Regimentskommandeur steht beim Fenster, sein rechter Ärmel hängt schlaff herunter. Das Feuer im Ofen knistert leise und ist am Erlöschen. Der Matrose Stassik, Chef des ersten Bataillons, deutet mit seiner erkalteten Zigarette auf den Telefonapparat und lässt seinem Groll gegen die Offiziere des Divisionsstabs freien Lauf.
„Noch immer sind sie nicht einig, müssen erst die strategisch-operative Lage der Gesamtfront diskutieren“, sagte er mit einem spöttischen Auflachen. „Vielleicht hat einer schon sogar einen Vorschlag gemacht, aber die anderen sind über ihn hergefallen und haben ihm aus den Büchern bewiesen, dass sein Plan nichts taugt. Eine einfache militärische Aufgabe, aber mit der Brille auf der Nase sehen sie überall Schwierigkeiten: Die Jahreszeit ist nicht günstig, die Wiesen sind versumpft, das Regiment zählt nur elfhundert Gewehre, die Truppen sind ungenügend ausgerüstet –“
„Wenn Sie noch hinzufügen“, sagt der Regimentskommandeur, dass die Weißen drüben Drahtverhaue und Maschinengewehre haben und dass ihre Artillerie der unseren überlegen ist, dann haben Sie die Einwände aufgezählt, die ich vor einer Stunde dem Stabschef der Division zur Kenntnis gebracht habe.“
Der schweigsame Storoschew, der das zweite Bataillon führt, deutet mit einem Kopfnicken an, dass er die Bedenken des Kommandeurs teilt. Er liebt waghalsige Unternehmungen nicht, er ist für den wohl vorbereiteten und sicheren Schlag, der den Feind vernichtet, sein Mut hat nichts von Ungestüm. Der Matrose Stassik ist von anderer Art. Überall, im Feld, im Spiel, bei den Frauen und im Streit, sucht er die raschen Entscheidungen. Er legt seine breite, rote Hand auf den Tisch und beugt sich vor.
„Vielleicht haben Sie, Genosse Kommandeur, auch gemeldet“, schreit er, „dass eine kameradschaftliche Disziplin nicht vorhanden ist, dass die Rotarmisten sich weigern, vorwärts zu gehen?“
„Die Disziplin ist gut“, gibt der Regimentskommandeur ruhig zur Antwort. „Aber die kameradschaftliche Disziplin allein genügt nicht, um die Stellung des Gegners sturmreif zu machen.“
„Es sieht beinahe so aus, als ob es sein Wille wäre, dass sich die weiße Exzellenz drüben davonmacht“, sagt Stassik über den Tisch hinweg halblaut zu Storoschew. Der einarmige Hauptmann hat es gehört. Sein Gesicht verfärbt sich, er macht zwei Schritte auf den Matrosen zu. Doch der Regimentskommissär kommt ihm zuvor. „Genosse!“sagt er in scharfem Ton zu Stassik. „Sie haben dem Regimentskommandanten mit Achtung zu begegnen. Ich bin für alle seine Handlungen mitverantwortlich. Wenn Sie Ihre Beschuldigung nicht sogleich zurückziehen, werde ich über den Vorfall auf dienstlichem Wege Bericht erstatten.“
Der Matrose Stassik, der bei Walki im dichtesten Kugelregen zwei feindliche Geschütze genommen hat, steht vor dem Kommissär mit dem unglücklichen Gesicht eines gescholtenen Schuljungen. Er will sprechen, aber der Hauptmann macht eine gleichgültig abwehrende Bewegung und geht auf seinen Platz am Fenster zurück. In diesem Augenblick läutet das Telefon. Der Hauptmann nimmt den Hörer und meldet sich: „Drittes rotes Schützenregiment der Pensaer Division. – Der Kommandeur.“
Er steht mit dem Hörer am Ohr und rührt sich nicht, seine Augen sind auf die Mäntel und Mützen an der Wand gerichtet, als käme von dorther die Stimme, die zu ihm spricht. Eine Minute vergeht. Er richtet sich auf und wiederholt den Befehl, den er erhalten hat:
„Die zwischen Zirky und Iwaniwka stehende weiße Brigade Markow wird um sechs Uhr morgens von neu herangeführten Truppen aus der Richtung Jamnoje-Sobolewsk flankierend angegriffen. Das dritte rote Schützenregiment macht um fünf Uhr vierzig Minuten einen Scheinangriff, um die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu lenken.“
(Fortsetzung folgt)