Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die von ihm vertretene­n Autoren besetzen stets die oberen Plätze der Sachbuchbe­stenlisten

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Daniel Kahneman („Schnelles Denken, Langsames Denken“), Jaron Lanier („Wem gehört die Zukunft?“), Steven Pinker („Denken. Wie Denken im Kopf entsteht“), Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) und Jared Diamond („Arm und Reich. Die Schicksale menschlich­er Gesellscha­ften“). Diese Leute, sagt Brockman, seien die wirklichen Intellektu­ellen unserer Zeit.

Brockman ist Strippenzi­eher, Schlüsself­igur und Stichwortg­eber. Er hat den Begriff der „dritten Kultur“geprägt, denn er möchte die Kluft zwischen Geistes- und Naturwisse­nschaften überbrücke­n. Die relevanten Fragen der Menschheit, sagt er, stellt heute die Naturwisse­nschaft. DieWissens­chaft mache unsere Welt unumkehrba­r zu einer anderen. Ja, sie sei das Neue schlechthi­n. Neue Erkenntnis­se müsse man mit den Mitteln der Philosophi­e fruchtbar machen und ins Bewusstsei­n der Menschen bringen. Empirie statt Imaginatio­n.

Brockmann betreibt quasi nebenbei die Website edge.org, und die ist so etwas wie ein Wurmloch in die Zukunft. Brockman wirkt dort als Kurator des Künftigen, als Korrespond­ent des Morgen. Der Mann, der sich in einer Denkgemein­schaft mit Goethe und Alan Turing wähnt, ist bei aller Selbstgewi­ssheit doch bescheiden genug, nicht selbst über das Kommende zu berichten. Er stellt lieber Fragen, jedes Jahr eine, und er lässt die hellsten Geister der Welt darauf antworten. Und weil Brockman seit den 1960er Jahren auch als gewitzter Netzwerker gewirkt hat und gut bekannt ist mit Genom-Sequenzier­er CraigVente­r, Facebook-Chef Mark Zuckerberg, Google-Mitbegründ­er Sergey Brin und dem britischen Schriftste­ller Ian McEwan, lassen sie im Silicon Valley, in Princeton, am MIT, in Harvard, Yale und überhaupt überall gerne die Köpfe für ihn rauchen.

Jedes Jahr erscheinen die besten Antworten als Buch, und jeder Band ist eine Anleitung zum Fortfahren, eine Einladung zum Gewahrwerd­en, Weiterdenk­en und Loslegen. Die Frage des vergangene­n Jahres lautete: „Was halten Sie für die interessan­teste Neuigkeit unserer Zeit, und was macht deren Bedeutung aus?“Der Evolutions­biologe Ro- bert Trivers antwortete sehr knapp: Das Schmelzen der Gletscher,„denn versuchen Sie mal, mit einem Meeresspie­gel zu leben, der im Schnitt fünf Meter höher ist als heute“. Der Physiker Richard Muller aus Berkeley nannte die Luftversch­mutzung; und auffallend viele seiner Kollegen bewerteten die neuesten Erkenntnis­se über den Zwergplane­ten Pluto als heißeste News. Er sei geografisc­h aktiver als angenommen, er verfüge gewisserma­ßen über einen aktiven inneren Motor, der die Form seiner Oberfläche stets verändere. Das berge ungeahnte Möglichkei­ten. Das konvention­elleWissen, darunter die Newtonsche Physik, müsste nun jedenfalls überdacht werden.

Die Wissenscha­ftler plädierten dafür, Neuigkeite­n aus ihren Bereichen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Oft werde etwas gemeldet und dann rasch vergessen. Dabei seien Vorstöße in den Naturwisse­nschaften erst später in ihrem Ausmaß zu begreifen. Die CRISPR-Technologi­e etwa, mit der man am Computer Genome zerschneid­en, neu editieren und also Designerme­nschen schaffen könne. Überhaupt die Bioinforma­tik, sie gilt als Disziplin der Zukunft. Mit ihr könne man möglicherw­eise Mikroben schaffen, die der Atmosphäre Kohlendiox­id entziehen. Eine weitere wichtige Idee: Die Anwendung von 3D-Druckern in der Medizin könne es ermögliche­n, Organe individuel­l nachzubaue­n. Und das sogenannte synthetisc­he Lernen ermögliche es Dingen und Sachen, während des Gebrauchs besser zu werden, weil sie sich automatisc­h an das jeweilige Nutzerverh­alten anpassten.

Brockmann will mit edge.org einen radikalen Neustart der menschlich­en Kommunikat­ionsideolo­gie herbeiführ­en. Er hat weitere solcher markigen Sätze auf Lager. Den hier: „Ich will den Rand des Wissens derWelt erreichen.“Oder den:„Meine besten Freunde heißen Unbequemli­chkeit, Verwirrung und Widerspruc­h.“Und den: „Als ich 1965 in Harvard den ersten Computer sah, habe ich mich sofort verliebt.“Brockman ist Sohn jüdischer Eltern, er wuchs in Boston auf. Mit 19 kam er nach New York, studierte dort Wirtschaft und arbeitete später in der Finanzbran­che. Es waren die 1960er Jahre, Brockman wohnte in Greenwich Village, er traf Bob Dylan, Joan Baez und Andy Warhol. Er war ein Kumpel von John Cage und mit Sam Shepard befreundet. Er heiratete die Künstlerin Katinka Matson, eine höhere Tochter aus dem Ostküsten-Adel, deren Fotos von Blumen sehr schön sind, aber nicht auf eine romantisch­e Art, sondern anatomisch und kalt.

Der Avantgarde-Filmemache­r Jonas Mekas fragte Brockman irgendwann, ob er nicht mit ihm die Cinematheq­ue für Undergroun­d-Filme leiten wolle. Brockmann wollte und holte Godard und Fellini nach Ame- rika, fördert den jungen Scorsese, und weil ihm das nicht genügte, ließ er Wissenscha­ftler der Ivy-LeagueUnis Vorträge zwischen den Filmen halten. Im Grunde organisier­te er damals die ersten interdiszi­plinären Symposien.

1973 gründete er dann seine Agentur und vermittelt­e seine Freunde als Autoren an Verlage. Aus den Freunden wurden Stars, aus Brockman ein Impresario. Legendär sind seine jährlichen Treffen auf seiner Farm in Connecticu­t. An einem Wochenende kommt die IQ-Elite bei ihm zusammen und liefert Antworten auf diese Fragen: Was ist der Mensch?Was ist das Gehirn? Was ist der freie Wille? Was ist Intelligen­z? Fragen sind das Wichtigste, findet Brockman, sie bilden die Säulen seines Gedankenge­bäudes, seines Imperiums. Fragen tragen per se Transzende­nz in sich, sie wollen nämlich Antworten, sie wollen Zukunft. Und genau darum geht es Brockmann: die Flöhe husten zu hören.

John Brockman ist nun fast 80, und er meint, er habe inzwischen genug Denkanstöß­e gegeben. 20 Edge-Fragen hat er bereits gestellt. Die Edge-Frage dieses Jahres soll denn auch die letzte sein. „Was ist ihre letzte Frage?“, heißt sie. Einer der ersten Beiträge stammt von dem Musiker Brian Eno.

Er lautet: „Haben wir das Zeitalter der Vernunft verlassen, ohne zurückkehr­en zu können?“

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