Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pfaffs Hof

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Bücher waren großartig, ich sammelte sie, seit ich „Wir Kinder aus Bullerbü“auf dem Büchertisc­h in unserer Schule im Dorf entdeckt hatte. Der Tisch war eigentlich nicht für uns Kleine gedacht gewesen, die Älteren hatten sich etwas aussuchen sollen, das ihre Eltern ihnen zuWeihnach­ten schenken konnten.

Aber weil Omma mir das Lesen beigebrach­t hatte, lange bevor ich in die Schule gekommen war, durfte auch ich mir den Tisch anschauen. Und die Bullerbü-Bücher hatten glänzende rote Umschläge gehabt und am besten von allen gerochen.

Seitdem wünschte ich mir zum Geburtstag und zuWeihnach­ten nur Bücher. Die waren teuer, und Mutter undVater schenkten mir immer nur eins. Aber man konnte sie ja wieder und wieder lesen.

Als ich noch kleiner war, hatte ich immer nach Bullerbü gewollt. Mittlerwei­le wusste ich natürlich, dass es Bullerbü gar nicht gab, dass es nur ausgedacht war. Aber das war mir egal, ich konnte trotzdem in Bullerbü sein, wenn ich wollte.

Zum nächsten Weihnachts­fest wünschte ich mir die„Madita“-Bände, und als ich das am Nachmittag Guste erzählt hatte, war sie gleich ins verbotene Schlafzimm­er geflitzt – sie durfte dort schlafen, weil Vater Trudi Pfaff gefragt hatte – und mit ihrem roten Notizbuch wiedergeko­mmen, damit sie sich das aufschreib­en konnte.

Ich überlegte, ob ich noch mal aufstehen sollte, um zu gucken, was Guste und Mutter im Wohnzimmer machten.

Aber da konnte ich Guste hören: „Mir ist das hier einfach zu kalt, Gerda, und der Fernseher ist ja auch noch nicht angeschlos­sen. Setzen wir uns lieber in die Küche, da ist es mollig.“

Ich betete, dass Mutter die Tür offen ließ.

Ich hörte für mein Leben gern zu, wenn Leute miteinande­r redeten.

Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich mich oft irgendwo versteckt, hinter Türen oder in dem Spalt zwischen Kleidersch­rank und Wand, und gelauscht.

Aber inzwischen wusste ich, dass ich nur irgendwo ganz ruhig in einer Ecke sitzen und in ein Buch schauen musste, dann vergaßen sie nach einer Weile, dass ich da war, und redeten einfach.

NurVater bemerkte mich manchmal. „Wände haben Ohren“, sagte er dann immer leise mit ganz tiefer Stimme.

Guste und Mutter sprachen darüber, warum wir jetzt hier wohnen mussten.

Ich wusste, dass Vater im Bergischen Land ein neues Haus für Mutter gebaut hatte, wegen ihrem Heimweh, und dass wir alle dorthin umziehen sollten.

Ich musste deswegen manchmal heimlich weinen.

Unser altes Haus im Dorf hatte Vater an andere Leute verkauft. Die waren gekommen, hatten sich alles angesehen und hochnäsig genickt. „Für uns muss das aber zügig gehen.“

Und dann auf einmal sollten wir doch nicht mehr ins Bergische Land ziehen.

Ich hörte Mutter leise weinen. „Das Haus lag doch in der Walachei. Schon für Annemarie wäre es schlimm gewesen, zur Schule zu kommen. Fünf Kilometer bis zur nächsten Bushaltest­elle! Aber jetzt mit einem Säugling? Ohne Auto, ohne Führersche­in? Nein, nicht mit mir!“

„Das ist der Grund?“Gustes Stimme klang hart. „Wem willst du etwas vormachen, Kind?“

Mutter schluchzte auf, und ich wollte zu ihr, aber jetzt redete sie wieder: „Er hätte doch unser Haus nicht so schnell verkaufen müssen, wir hätten doch da bleiben können!“

„Dann hätte er kein Geld gehabt, den Bungalow im Bergischen fertig zu bauen, das weißt du ganz genau.“

Aber Mutter hörte ihr nicht zu. „Und jetzt sitze ich hier in diesem Drecksloch und weiß nicht, wo ich es herholen soll . . .“

„Das ist doch nur für den Übergang“, sagte Guste streng. „Wenn der Bungalow erst einmal verkauft ist, sieht doch alles ganz anders aus. Glaubst du vielleicht, bei mir wäre immer alles rosig gewesen?“

Mutter murmelte etwas, und Guste kicherte. „Dass du jetzt ausgerechn­et hier wohnst!Wenn das nicht Ironie des Schicksals ist.“

Dann sprachen sie übers Kinderkrie­gen und dass Guste damals für Mutter da gewesen war, aber das kannte ich alles schon: Mutter und Vater hatten im Krieg geheiratet, und als neun Monate nach der Hochzeit Peter auf die Welt kam, war Vater an der Front gewesen, Mutters zwei Brüder auch, ihre älteren Schwestern irgendwo beim Arbeitsdie­nst und ihre Eltern mit dem jüngsten Sohn in Polen, wo Opa vom Führer einen Hof geschenkt bekommen hatte. Und Mutter wohnte ganz allein in ihrem elterliche­n Haus im Bergischen. „Ich war noch keine zwanzig Jahre alt . . .“

„Wenn ich dich damals nicht gehabt hätte, Güsken . . . Und jetzt steh ich wieder alleine da!“

„Papperlapa­pp“, beschied Guste. „Das waren doch ganz andere Zei- ten.“Ich schlief ein.

Vater hatte Urlaub, und als Erstes wurden unsere Korbmöbel aus der Scheune geholt.

Das klumpige Sofa aus Pfaffs guter Stube mit dem kratzigen Bezug musste raus.

Aber obwohl Guste stark wie ein Ochse war, kriegte sie es an ihrer Seite nicht hochgehobe­n.

Vater nahm sie in den Arm. „Stark wie ein ganz kleiner Ochse.“

Guste lachte. „Du fängst dir gleich eine!“

Mutter hob das Sofa mühelos an. „Dann komm.“

Aber Vater schob sie beiseite. „Du trägst keine schweren Sachen mehr. Pack die Kartons aus und räum die Küchenschr­änke ein oder die Wäsche. Was nötig ist. Annemie, du hilfst ihr. Ich fahre zu Lehmkuhls. Wenn Pit nicht gerade auf dem Feld ist, packt der bestimmt mit an.“

Er holte sein Fahrrad von der Tenne und machte sich auf den Weg.

Früher hatte er ein Moped gehabt, aber das war kaputtgega­ngen, und Geld für ein neues hatten wir nicht, deshalb musste er jetzt mit dem Fahrrad zum Dienst fahren. Und es war ganz schön weit bis zum Gefängnis in der Stadt, wo er arbeitete. Aber er fand es nicht schlimm. „Halb so wild, ohne Gegenwind eine knappe halbe Stunde.“

An diesem Tag schien die Sonne, und Pfaffs Hof sah kein bisschen gruselig aus, sondern eigentlich ziemlich schön.

Der dunkelrote Backstein leuchtete richtig, und im Garten vor dem Haus, in dem das Unkraut so hoch stand, dass ich mich darin verstecken konnte, zeigten sich erste Blüten.

(Fortsetzun­g folgt)

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