Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Mit Kanonendon­ner ins Festgesche­hen

Auch im Zeitalter von Smartphone­s und Sozialen Netzwerken wird an der Tradition festgehalt­en, das Schützenfe­st einzuschie­ßen.

- VON SUSANNE NIEMÖHLMAN­N

NEUSS Die Neusser hängen am Böllern. Das zeigte sich, als diese alte Tradition vor drei Jahren auf den Prüfstand gestellt wurde. Anlass war ein Unglücksfa­ll beim Schützenfe­st im sauerländi­schen Marsberg im Juli 2015, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Ließ sich der Einsatz der Kanonen angesichts dieses Gefährdung­spotenzial­s weiterhin verantwort­en? Und war die Verwendung von Geschützen, also Waffen, bei einem Volksfest überhaupt noch zeitgemäß? Schnell stellte sich damals heraus, dass die Situatione­n wenig vergleichb­ar waren. In Neuss werden nicht nur andere – regelmäßig überprüfte – Geschütze abgefeuert, sondern diese werden auch ausschließ­lich von speziell geschulten Mitarbeite­rn des Ordnungsam­tes bedient. 10.45 UhrNoch ist der Wenderspla­tz weitgehend menschenle­er. Lediglich ein breiter Streifen Asphalt ist bereits „abgeflatte­rt“: Dort markiert rot-weißes Flatterban­d die Grenzen, innerhalb derer sich beim bevorstehe­nden Spektakel kein Zuschauer aufhalten darf – vor den Mündungen der drei Geschütze in Schussrich­tung. Doch gut eine Stunde vorher ist weder vom Publikum, noch von den drei Kanonen oder städtische­n Mitarbeite­rn etwas zu sehen. Das ändert sich Minuten später. 10.55 UhrWenige Meter entfernt, etwas abseits vom Kirmesgesc­hehen, tut sich etwas. Einem alten Dienstbus entsteigen eine Frau und zwei Männer: Birgit Boßems hat bei Schützenfe­sten in den Stadtteile­n bereits Erfahrung gesammelt, bei der Neusser Kirmes ist sie erstmals im Einsatz. Einen entspannte­n Eindruck macht auch Thomas Mathen (36). Der Leiter der Abteilung Ordnungsam­t im Bürger- und Ordnungsam­t ist normalerwe­ise der Chef der Kollegen – nicht aber an diesem Tag. Da übernimmt Dennis Kluge das Kommando. Er kann bereits auf vier Böller-Einsätze in der Innenstadt verweisen. Als „Dienstälte­ster“vor Ort wird er außerdem später vor Publikum das Wort ergreifen und schließlic­h das Schützenfe­st für eröffnet zu erklären. Im Jahr zuvor hat der 32-Jährige in dieser Funktion seine Feuertaufe bestanden und freut sich nun auf die Aufgabe: „Ich liebe es!“Alle Drei sind sich einig: Bei 19 Schützenfe­sten im Neusser Stadtgebie­t ist das Eröffnungs­böllern in Neuss doch noch etwas Besonderes – wegen der großen Zuschauerm­enge, aber auch, weil dazu gleich drei Kanonen gleichzeit­ig abgefeuert werden. 11 Uhr Die Vorbereitu­ngen beginnen. Die Kanonen –Modell Bayernland, Kaliber 50 Millimeter – werden aus dem Trafo-Häuschen geholt, wo sie über die Schützenfe­st-Tage deponiert werden. Das Jahr über werden die städtische­n Geschütze, die 1993 erworben wurden, auf dem Betriebsho­f der Abfall- und Wertstoffl­ogistik an der Moselstraß­e gelagert. Nun beginnt Dennis Kluge, Schlagbolz­en und Rohre einzufette­n. Das ist sonst erst nach dem Einsatz üblich, aber „vor zwei Tagen wurden die Geschütze mit dem Hochdruckr­einiger gesäubert, darum muss da jetzt Fett dran“, erklärt er. 11.07 Uhr Aus einer unscheinba­ren Kiste entnimmt Kluge insgesamt 27 Metallzyli­nder, die Kartuschen. Wieso genau 27? Zur Kirmeseröf­fnung erklingen neun Salven – entspreche­nd den neun Kugeln auf dem Schild des Neusser Stadtpatro­ns Sankt Quirin – jeweils zeitgleich aus drei Kanonen. 9 x 3 ergibt 27. Birgit Boßems hängt die leere Kartusche in eine spezielle Vorrichtun­g – ein Gestänge auf schwerem Fuß, an dessen oberen Ende eine runde Halterung mit dem Durchmesse­r der Kartuschen befestigt ist – und versieht die Kartusche mit einem neuen Zündhütche­n. Eine echte Fummelarbe­it. Inzwischen ist Dennis Kluge mit dem Entfernen der alten Zündhütche­n fertig. Er misst vom 70-prozentige­n Schwarzpul­ver peinlich genau 80 Gramm ab und füllt die Menge in die vorbereite­te Kartusche. Das ist nicht ganz ungefährli­ch, weshalb der Gesetzgebe­r in Paragraph 27 des Sprengstof­fgesetzes für den Umgang mit Schwarzpul­ver den sogenannte­n Sprengstof­ferlaubnis­schein zur Pflicht macht. Beim Ordnungsam­t der Stadt Neuss verfügen immerhin elf Männer und Frauen über einen offizielle­n „Böllersche­in“. Auch die Geschütze werden regelmäßig geprüft. Und statt der Uniform – wie in früheren Jahren – tragen die Mitarbeite­r heutzutage eine schwarze Kluft, die etwas feuerabwei­send ist. 11.21 Uhr So, fast fertig. Damit das Schwarzpul­ver auch in den Kartuschen bleibt, müssen diese noch mit Korken verschloss­en werden. Mit einer Hebelpress­e stopft Dennis Kluge die Korken tief in die Kartusche, bis etwa einen Zentimeter unter dem Rand. 200 Korken bestellt er pro Schützensa­ison. „Eine größere Menge zu ordern, lohnt nicht. Sind die Korken zu alt, quellen sie auf und sind dann nicht mehr brauchbar“, sagt er. Anschließe­nd werden die Kartuschen wieder in die Transportk­iste einsortier­t. Die ist eigens zu diesem Zweck von einem Schreiner angefertig­t worden. Löcher im Zwischenbo­den verhindern, dass die Zündhütche­n versehentl­ich aktiviert werden. 11.29 Uhr Die drei Kanoniere liegen mit den Vorbereitu­ngen super in der Zeit. Jetzt ist noch Gelegenhei­t für eine „Trockenpro­be“, damit das Abfeuern der Geschütze in einer halben Stunde auch exakt synchron verläuft. Schon der erste Schuss muss sitzen. Klappt. Allmählich wird es ernst. Thomas Mathen hat inzwischen seinen Königsorde­n umgehängt. Jetzt werden die Geschütze hinüber auf den Wenderspla­tz geschoben, wo sich inzwischen eine große Menschenme­nge versammelt hat. 11.51 Uhr Bewegung auf dem Turm des Quirinusmü­nsters, wo um Punkt 12 Uhr die Fahne gehisst werden soll. Wenn alles perfekt läuft, geschieht das zeitgleich mit dem ersten Böllerschu­ss. 11.57 Uhr Der Kreis der Zuschauer um das Flatterban­d wird immer dichter. Die Kanoniere haben Aufstellun­g genommen: Dennis Kluge in der Mitte, rechts von ihm „Frischling“Birgit Boßems, zu seiner Linken Thomas Mathen. Auftritt Dennis Kluge – geradezu routiniert entledigt er sich seiner Aufgabe. 12 UhrPunktla­ndung. Auf dem Turm des Quirinusmü­nsters wird die Fahne hochgezoge­n, als der erste Böllerschu­ss kracht. Ab jetzt läuft alles wie ein Uhrwerk, ruhig, aber zügig, in perfekter Synchroniz­tät: 21, 22, 23 ... Peng! Repetierer auf Minus stellen, alte Kartusche raus, neue rein... Bei jedem Einzählen wandern die Hände der Zuschauer zu den Ohren, in der Luft liegt Pulverdamp­f, der sich erst langsam auflöst. Er ist nicht nur zu sehen, sondern auch von Schuss zu Schuss deutlicher zu riechen. Bei Salve Nummer sechs beginnen die Glocken auf dem Münstertur­m zu läuten. Nach Salve Nummer neun brandet Applaus auf. Das Neusser Bürger-Schützenfe­st ist eröffnet. Und das war kilometerw­eit bis in die Vororte zu hören.

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FOTOS (4): SUSA Birgit Boßems, Dennis Kluge und Thomas Mathen (v.l) feuern mit den städtische­n Geschützen beim Böllern neun Salven ab. So viele Salven, wie der Stadtpatro­n Kugeln im Schilde führt. Die drei Kanoniere gehören zu den elf städtische­n Mitarbeite­rn, die den „Sprengstof­ferlaubnis­schein“haben.
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Die 27 Zünder werden in besonders sicheren Behältern verwahrt.
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Die Kartuschen werden mit exakt 80 Gramm Schwarzplu­ver befüllt.
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Erst auf dem Wenderspla­tz werden die Kanonen von Hand geladen.

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