Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Mit Kanonendonner ins Festgeschehen
Auch im Zeitalter von Smartphones und Sozialen Netzwerken wird an der Tradition festgehalten, das Schützenfest einzuschießen.
NEUSS Die Neusser hängen am Böllern. Das zeigte sich, als diese alte Tradition vor drei Jahren auf den Prüfstand gestellt wurde. Anlass war ein Unglücksfall beim Schützenfest im sauerländischen Marsberg im Juli 2015, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Ließ sich der Einsatz der Kanonen angesichts dieses Gefährdungspotenzials weiterhin verantworten? Und war die Verwendung von Geschützen, also Waffen, bei einem Volksfest überhaupt noch zeitgemäß? Schnell stellte sich damals heraus, dass die Situationen wenig vergleichbar waren. In Neuss werden nicht nur andere – regelmäßig überprüfte – Geschütze abgefeuert, sondern diese werden auch ausschließlich von speziell geschulten Mitarbeitern des Ordnungsamtes bedient. 10.45 UhrNoch ist der Wendersplatz weitgehend menschenleer. Lediglich ein breiter Streifen Asphalt ist bereits „abgeflattert“: Dort markiert rot-weißes Flatterband die Grenzen, innerhalb derer sich beim bevorstehenden Spektakel kein Zuschauer aufhalten darf – vor den Mündungen der drei Geschütze in Schussrichtung. Doch gut eine Stunde vorher ist weder vom Publikum, noch von den drei Kanonen oder städtischen Mitarbeitern etwas zu sehen. Das ändert sich Minuten später. 10.55 UhrWenige Meter entfernt, etwas abseits vom Kirmesgeschehen, tut sich etwas. Einem alten Dienstbus entsteigen eine Frau und zwei Männer: Birgit Boßems hat bei Schützenfesten in den Stadtteilen bereits Erfahrung gesammelt, bei der Neusser Kirmes ist sie erstmals im Einsatz. Einen entspannten Eindruck macht auch Thomas Mathen (36). Der Leiter der Abteilung Ordnungsamt im Bürger- und Ordnungsamt ist normalerweise der Chef der Kollegen – nicht aber an diesem Tag. Da übernimmt Dennis Kluge das Kommando. Er kann bereits auf vier Böller-Einsätze in der Innenstadt verweisen. Als „Dienstältester“vor Ort wird er außerdem später vor Publikum das Wort ergreifen und schließlich das Schützenfest für eröffnet zu erklären. Im Jahr zuvor hat der 32-Jährige in dieser Funktion seine Feuertaufe bestanden und freut sich nun auf die Aufgabe: „Ich liebe es!“Alle Drei sind sich einig: Bei 19 Schützenfesten im Neusser Stadtgebiet ist das Eröffnungsböllern in Neuss doch noch etwas Besonderes – wegen der großen Zuschauermenge, aber auch, weil dazu gleich drei Kanonen gleichzeitig abgefeuert werden. 11 Uhr Die Vorbereitungen beginnen. Die Kanonen –Modell Bayernland, Kaliber 50 Millimeter – werden aus dem Trafo-Häuschen geholt, wo sie über die Schützenfest-Tage deponiert werden. Das Jahr über werden die städtischen Geschütze, die 1993 erworben wurden, auf dem Betriebshof der Abfall- und Wertstofflogistik an der Moselstraße gelagert. Nun beginnt Dennis Kluge, Schlagbolzen und Rohre einzufetten. Das ist sonst erst nach dem Einsatz üblich, aber „vor zwei Tagen wurden die Geschütze mit dem Hochdruckreiniger gesäubert, darum muss da jetzt Fett dran“, erklärt er. 11.07 Uhr Aus einer unscheinbaren Kiste entnimmt Kluge insgesamt 27 Metallzylinder, die Kartuschen. Wieso genau 27? Zur Kirmeseröffnung erklingen neun Salven – entsprechend den neun Kugeln auf dem Schild des Neusser Stadtpatrons Sankt Quirin – jeweils zeitgleich aus drei Kanonen. 9 x 3 ergibt 27. Birgit Boßems hängt die leere Kartusche in eine spezielle Vorrichtung – ein Gestänge auf schwerem Fuß, an dessen oberen Ende eine runde Halterung mit dem Durchmesser der Kartuschen befestigt ist – und versieht die Kartusche mit einem neuen Zündhütchen. Eine echte Fummelarbeit. Inzwischen ist Dennis Kluge mit dem Entfernen der alten Zündhütchen fertig. Er misst vom 70-prozentigen Schwarzpulver peinlich genau 80 Gramm ab und füllt die Menge in die vorbereitete Kartusche. Das ist nicht ganz ungefährlich, weshalb der Gesetzgeber in Paragraph 27 des Sprengstoffgesetzes für den Umgang mit Schwarzpulver den sogenannten Sprengstofferlaubnisschein zur Pflicht macht. Beim Ordnungsamt der Stadt Neuss verfügen immerhin elf Männer und Frauen über einen offiziellen „Böllerschein“. Auch die Geschütze werden regelmäßig geprüft. Und statt der Uniform – wie in früheren Jahren – tragen die Mitarbeiter heutzutage eine schwarze Kluft, die etwas feuerabweisend ist. 11.21 Uhr So, fast fertig. Damit das Schwarzpulver auch in den Kartuschen bleibt, müssen diese noch mit Korken verschlossen werden. Mit einer Hebelpresse stopft Dennis Kluge die Korken tief in die Kartusche, bis etwa einen Zentimeter unter dem Rand. 200 Korken bestellt er pro Schützensaison. „Eine größere Menge zu ordern, lohnt nicht. Sind die Korken zu alt, quellen sie auf und sind dann nicht mehr brauchbar“, sagt er. Anschließend werden die Kartuschen wieder in die Transportkiste einsortiert. Die ist eigens zu diesem Zweck von einem Schreiner angefertigt worden. Löcher im Zwischenboden verhindern, dass die Zündhütchen versehentlich aktiviert werden. 11.29 Uhr Die drei Kanoniere liegen mit den Vorbereitungen super in der Zeit. Jetzt ist noch Gelegenheit für eine „Trockenprobe“, damit das Abfeuern der Geschütze in einer halben Stunde auch exakt synchron verläuft. Schon der erste Schuss muss sitzen. Klappt. Allmählich wird es ernst. Thomas Mathen hat inzwischen seinen Königsorden umgehängt. Jetzt werden die Geschütze hinüber auf den Wendersplatz geschoben, wo sich inzwischen eine große Menschenmenge versammelt hat. 11.51 Uhr Bewegung auf dem Turm des Quirinusmünsters, wo um Punkt 12 Uhr die Fahne gehisst werden soll. Wenn alles perfekt läuft, geschieht das zeitgleich mit dem ersten Böllerschuss. 11.57 Uhr Der Kreis der Zuschauer um das Flatterband wird immer dichter. Die Kanoniere haben Aufstellung genommen: Dennis Kluge in der Mitte, rechts von ihm „Frischling“Birgit Boßems, zu seiner Linken Thomas Mathen. Auftritt Dennis Kluge – geradezu routiniert entledigt er sich seiner Aufgabe. 12 UhrPunktlandung. Auf dem Turm des Quirinusmünsters wird die Fahne hochgezogen, als der erste Böllerschuss kracht. Ab jetzt läuft alles wie ein Uhrwerk, ruhig, aber zügig, in perfekter Synchroniztät: 21, 22, 23 ... Peng! Repetierer auf Minus stellen, alte Kartusche raus, neue rein... Bei jedem Einzählen wandern die Hände der Zuschauer zu den Ohren, in der Luft liegt Pulverdampf, der sich erst langsam auflöst. Er ist nicht nur zu sehen, sondern auch von Schuss zu Schuss deutlicher zu riechen. Bei Salve Nummer sechs beginnen die Glocken auf dem Münsterturm zu läuten. Nach Salve Nummer neun brandet Applaus auf. Das Neusser Bürger-Schützenfest ist eröffnet. Und das war kilometerweit bis in die Vororte zu hören.