Das „Schweinchen“wird mit Stolz getragen. Es ist weniger Pranger. Eher ein Ehrenzeichen für den, der sich gegen die Norm verhält.
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VON LUDGER BATEN
NEUSS Auf den ersten Blick ist alles ganz einfach: Wer zu spät zum Antreten erscheint, berappt pro Minute einen Euro. Werden keine schwarze Socken zur Uniform getragen, kostet das zwei Euro. Für den Luxus, beim Umzug mit Sonnenbrille zu marschieren, zahlt man gewöhnlich fünf Euro. Der Spieß notiert alle Fehlleistungen mit dickem Bleistift fein säuberlich in seinem Buch. Wem er bei seiner Schützenfest-Bilanz das höchste Strafengeld zuweist, der ist „Zugsau“.
Als äußeres Zeichen seiner Missetaten muss der Marschierer fortan für zwölf Monate bei allen Zuganlässen ein Schwein spazieren tragen. Es ist meist aus Metall, manches Mal auch aus Plastik. Oft baumelt es groß und schwer an einer Kette vor der Brust, manches Mal ist es filigran gearbeitet und versteckt sich dezent als Emblem neben der Ordensspange. So vielfältig und individuell sich das Leben in den Zügen gestaltet, so vielfältig und individuell ist auch das Spiel mit und um die „Zugsau“. Ein Spiel, das nur der versteht, der mitten im Zug lebt.
Wie so vieles im Schützenwesen gehört auch die „Zugsau“in die Abteilung Persiflage. Was auf den ersten Blick als „Pranger“für das objektiv höchste Strafgeld aussieht, ist in Wirklichkeit meist pure Willkür, weil niemand weiß, nach welchen Kriterien der Spieß seine Strafen verhängt. Wer zu viel Bier trinkt, zahlt ebenso wie der, der nur am Glas nippt. Keiner hat eine Chance, alle müssen blechen. Arm dran ist der, der einen Witz nicht versteht, keine Runde ausgibt oder gar als erster den Heimweg antritt: Schlechtes Vorbild!
Im Kern spiegelt das Zugsau-Spiel die Ambivalenz des Lebens. Nichts ist nur gut, nichts ist nur schlecht. Darum versteht der Träger seine Zugsau, die er tragen darf, auch eher als Ehrenzeichen, das den auszeichnet, der sich eben nicht immer an die Norm hält und auch schon mal über die Stränge schlägt. Als Zugsau kann man sich nicht bewerben, zur Zugsau wird man gemacht.
Und da gibt es dann noch die Geschichte von dem Schützen, der als neue Zugsau dekoriert nach Hause kommt und von seiner Frau strahlend begrüßt wird: „Du bist aber ein süßes Schwein!“Schwein gehabt! Sven Gers Dennis Lech Marc Angermund Michael T. Lieven
„Schützenwesen als Persiflage: Was aussieht wie eine Strafe nach objektiven Kriterien, ist in Wahrheit pure Willkür“
Michael Odenthal Norbert Buschhüter Michael Faller Simon Kell