Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Moderne Präparate werden gern als unbedenklich und risikoarm gepriesen
zum Labor geschickt wird, gehört es mittlerweile fast selbstverständlich dazu, dass dort auch die Ermittlung des TSH-Wertes in Auftrag gegeben wird – ist er erhöht, ist das ein Hinweis auf eine mangelnde Hormonausschüttung der Schilddrüse. Einige Patienten suchen sogar im Internet nach Schilddrüsen-Spezialisten, und wenn sie jemanden gefunden haben, schicken sie ihm eine Blutprobe von sich. Wenige Tage später bekommen sie dann eine E-Mail oder einen Telefonanruf, in denen ihnen konkrete Angaben zur Medikation mitgeteilt werden.
Bleibt die Frage, warum die Schilddrüse so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Antwort liegt im Wirkungsspektrum des von ihr ausgeschütteten Hormons Thyroxin, zu dem vor allem die Mobilisation des Zucker- und Fettstoffwechsels gehört. Dadurch können Unterfunk- tionen der Schilddrüse eine breite und bunte Palette an Beschwerden auslösen.Wie etwa Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Kälteempfindlichkeit, Haarausfall, brüchige Nägel und Übergewicht. „Das sind zwar allesamt unspezifische Symptome, die auch bei vielen anderen Krankheiten auftreten“, warnt Beuschlein. Doch wenn dann noch auffällige Schilddrüsenwerte im Blut gefunden werden, verführe das zu dem zu dem voreiligen Schluss, dass dieses Organ auch für die genannten Beschwerden verantwortlich sein muss.
Man kann sich leicht vorstellen, was etwa in dem Kopf einer Frau vorgeht, die sich schon seit längerer Zeit müde, unkonzentriert und mit hartnäckigem Übergewicht durch den Tag schleppt und dann von Hashimoto hört, der genau diese Beschwerden in seinem Symptomregister hat. Sie wird erleichtert darüber sein, wenn man bei ihr einen erhöhten TSH-Wert findet, weil das endlich einen einfachen Ausweg aus ihrer Leidensgeschichte bietet. Denn einen Mangel an Schilddrüsenhormonen kann man leicht mit Thyroxinpräparaten behandeln, deren Einnahme weitaus weniger Mühe und Aufwand erfordert als etwa eine Diät gegen Übergewicht oder Meditationen zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit.
Hinzu kommt, dass die Präparate gerne als unbedenklich und risikoarm gepriesen werden, was noch mal den Reiz dieser Behandlung erhöht. Doch diese Einschätzung ignoriert die konkrete Anwendungsweise und Dosierung der Medikamente. Eine englische Studie an über 52.000 Thyroxin-behandelten Patienten brachte heraus, dass knapp sechs Prozent von ihnen viel zu viel Thyroxin produzierten. Die Ärzte hatten es also zu gut mit ihnen gemeint und überdosiert. „Und das geht Hand in Hand mit einem gesteigerten Risiko für Krankheiten wie Vorhofflimmern und Osteoporose“, betont Studienleiter Peter Taylor von der Cardiff University.
Was die Ergebnisse der englischen Studie noch dramatischer macht: 30 Prozent der Patienten bekamen die Medikamente, obwohl ihr TSH-Wert nur knapp unter 10 mU/l lag, was von den meisten Endokrinologen noch nicht als therapiebedürftig eingeschätzt wird. Und bei knapp 20 Prozent begründete der Arzt die Verordnung mit der Müdigkeit und bei 14 Prozent mit dem Übergewicht seines Patienten, die auch unzählige andere Gründe haben können als eine träge Schilddrüse.
Wer nun argumentiert, dass diese Zahlen ja nur für England gelten, sollte wissen, dass Thyroxin-Präparate hierzulande noch schneller und lockerer verordnet werden. Es gibt also gute Gründe, dem aktuellen Hashimoto-Hype und dem damit zusammenhängenden Arzneimittelkonsum skeptisch zu begegnen. Beuschlein betont, dass für das Einleiten einer Hormon-Therapie mehr vorliegen sollte als nur Müdigkeit, Übergewicht und ein erhöhter TSHWert. Außerdem würden für eine gesicherte Hashimoto-Diagnose selbst mehrere TSH-Erhöhungen nicht als sicheres Kriterium ausreichen, „da sollten auch die Entzündungswerte erhoben und möglicherweise auch ein Ultraschallbild gemacht werden“.
Tröstlich immerhin: Sollte sich nach diesen Diagnose-Schritten der Hashimoto-Verdacht erhärten, besteht kein Grund zur Panik. Die Erkrankung ist zwar unheilbar, aber man kann mit ihr leben. Und das in der Regel genauso lang wie andere Menschen auch.