Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pfaffs Hof

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Mutter und Vater sprachen so viel miteinande­r wie noch nie. Aber manchmal schnauzten sie sich auch an. Mutter wollte unbedingt eine Zentralhei­zung eingebaut haben.

Ich konnte das gut verstehen. Es war bestimmt wunderbar, wenn man morgens aufstand und es überall mollig warm war.

„Nichts lieber als das!“Vater guckte wie ein Fuchs. „Dann wird das allerdings in den nächsten Jahren erst mal nichts mit neuen Möbeln.“

Mutter wäre ihm beinahe ins Gesicht gesprungen. „Du fieser Kerl!“

Dann fuhren sie mit Schmierlin­g zur Kasse und zum Notar und kauften das Haus.

Wir würden in die obere Etage ziehen, Dirk und ich bekamen jeder eine Mansarde.

Alles würde renoviert, das Treppenhau­s neu gemacht und ein Badezimmer eingebaut werden.

Dorissens blieben unten wohnen, denn fürs Erste brauchten wir deren Miete noch.

Wenn wir sparten, würden wir in fünf Jahren eine Zentralhei­zung und neue Fenster einbauen und das ganze Haus bewohnen können. Und keinen Kohlenkell­er mehr brauchen.Vater wollte dann dort einen „Partykelle­r“einbauen mit einer gemauerten Bar. Mutter lachte sich kaputt.

Wir müssten wirklich kräftig sparen – und Mutter arbeiten gehen. Auch das war schon geregelt. Frau Dorissen putzte in der Schokolade­nfabrik, und dort wurden immer Frauen gesucht.

Mutter würde mit dem Bus um halb zwei zur Arbeit fahren und abends um halb acht wieder zu Hause sein.

WennVater Spätdienst hatte, würden beide um halb zwei aus dem Haus gehen, und ich musste von der Schule nach Hause rennen, damit ich auf Dirk aufpassen konnte.

Von halb zwei bis halb acht und kein Franz-Peter. Was sollte ich die ganze Zeit mit meinem kleinen Bruder anfangen? Und wann sollte ich meine Hausaufgab­en machen? Mutter war fröhlich wie noch nie. „Neue Möbel! Und du kriegst ein eigenes Zimmer, stell dir vor!“

Und dann erfuhr ich, dass es tatsächlic­h „evangelisc­hes Stricken“gab.

In „Nadelarbei­ten“mittwochs in der fünften und sechsten Stunde hatten wir Frau Markward, eine spilledürr­e Juffer mit verknitter­ter, schuppiger Haut, der alles auf die Nerven ging.

„Setzen!“, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor.

Stühlerück­en und Gemurmel, was sie dazu brachte, die Augen gen Himmel zu schlagen.

„Wer von euch kann nicht stricken?“Alle außer mir zeigten auf. Frau Markward seufzte tief. „Das wird ja immer schlimmer. Wo soll das enden?“

Neben dem Pult zu ihren Füßen stand ein Karton voller Wollknäuel und Stricknade­ln.

„Wir werden als Erstes einen Musterlapp­en stricken.“

Sie hielt einen schmalen Lappen aus gelber mercerisie­rter Baumwolle hoch, ziemlich feine Wolle, höchstens Dreier-Nadeln. Und ich erschrak ein bisschen, als ich erkannte, dass auch Patent- und Zopfmuster dabei waren.

„Du!“Sie zeigte auf Beatrix, die vorn links saß. „Du sammelst von allen bis nächste Woche eine Mark fünfzig für die Materialko­sten ein.“

Dann rief sie mich nach vorn und stellte sich hin. Ich musste mich auf den Lehrerstuh­l setzen.

Das war schön, endlich konnte ich meine Beine ausstrecke­n.

Frau Markward duftete nach Bohnenkaff­ee. „Du kannst doch aufstricke­n?“Ich nickte und fing an. Und da strahlte sie übers ganze Echsengesi­cht.

„Hast du das von deiner Mutter gelernt?“Ich nickte wieder. „Die kommt aber nicht aus der Gegend hier.“„Nein, aus dem Bergischen Land.“„Das sieht man gleich, nicht diese katholisch­e Unsitte . . .“

Mutter hätte sich ein Bein ausgefreut, wenn sie das gehört hätte.

„Danke, du darfst dich wieder auf deinen Platz setzen. Und nimm dein Strickzeug mit.“

Sie klappte die Tafel auf, innen stand, was wir als Nächstes handarbeit­en würden:

gestrickte­r Musterlapp­en (mer. Baumw., Nadelst. 2 ½) Einschlagt­uch f. Nadelarb. (80 x 80) mit Hohlsaum (Flockenbas­t, Seidentwis­t)

Kopfkissen­bezug (80 x 80) als Einf. i.d. Arbeit an d. Maschine)

Zierbänder bzw. -gürtel; versch. Materialie­n. (Technik: Flechten u. Knüpfen)

„Übrigens, Mädchen, es gibt ja immer mal wieder eine, die keine Lust hat und deshalb ihre Nadelarbei­t zu Hause ,vergisst’ . . .“Sie malte Gänsefüßch­en in die Luft. „Die ist dann aber keineswegs vom Handarbeit­en befreit, sondern darf Binden für Leprakrank­e stricken.“

Sie machte den breiten Schrank auf, der gegenüber vom Fenster stand, und eine Wolke von Muff quoll heraus.

Dicke Docken weißer Baumwolle lagen darin, meterlange Binden kringelten sich. Stricken für Doofe, alles kraus rechts und alle gräulich, mal heller, mal dunkler, je nachdem, wie klebrig oder schmutzig die Hände der Strickerin­nen gewesen waren.

„Einmal im Jahr schicken wir die nach Afrika“, erklärte Frau Markward und rümpfte die Nase. „Nachdem wir sie gründlich ausgekocht und aufgebügel­t haben selbstvers­tändlich.“

In Erdkunde hatten wir Frau Holtappel. Auch sie war ziemlich alt. Sie besaß drei Strickkost­üme in Hellbraun, Olivgrün und Marine, die sie abwechseln­d trug.

Dazu klobige Schnürschu­he mit unterschie­dlichen Sohlen, denn sie hatte ein kürzeres Bein.

„Kinderlähm­ung“, erzählte uns die dunkle Silke nach der ersten Erdkundest­unde.

Frau Holtappel machte großes Theater um das Aufstehen. Sie stellte sich vor die Tafel und wartete, bis es mucksmäusc­henstill war. Dann klopfte sie hinter dem Rücken zweimal hart gegen die Tafel, breitete mit Schwung die Arme aus, als wollte sie einen Chor dirigieren, und flötete: „Guten Morgen, meine Lieben!“

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