Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pfaffs Hof

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Ihr war es sehr wichtig, dass wir bei ihr etwas fürs Leben lernten. Und weil sie auch Latein gab, schrieb sie uns einen wichtigen Satz an die Tafel: „Non scholae sed vitae discimus“.

Wir mussten ihn in unser Erdkundehe­ft schreiben und auswendig lernen.

Wir Frauen, besonders in unserem jungen Alter, mussten dafür sorgen, dass wir uns den Unterleib nicht verkühlten.

Sie lüpfte ihren Strickrock und zeigte uns ihre halblangen Unterhosen aus rosa Angorawoll­e.

Irgendeine hinten prustete und flüsterte: „Liebestöte­r“, aber Frau Holtappel hörte es nicht oder tat zumindest so.

Im Winter sollten wir über dem Unterhemd ein Leibchen tragen – „Ich empfehle Medima“–, denn auch die weibliche Brust musste gut warm gehalten werden.

„Ich persönlich schwöre ja bei Minustempe­raturen auf ein Katzenfell im Rücken, aber leider ist so etwas heutzutage nicht mehr käuflich zu erwerben.“

Ich hatte lauter gruselige Bilder im Kopf.

Ein andermal erklärte sie uns, dass wir „fortan“keine Bananen von „Chiquita“essen dürften, weil „Chiquita“die Pflücker ausbeutete bis zum Gehtnichtm­ehr.

Wir sprachen über Güter für den Weltmarkt aus Mittel- und Südamerika, obwohl das in Erdkunde noch nicht dran war.

Für mich war das mit „Chiquita“kein Problem, bei uns zu Hause gab es nie Bananen.

Das mit den „Schneiderb­üchern“allerdings schon.

Frau Holtappel verabscheu­te „Schneiderb­ücher“, weil sie „Schund“waren und uns „verdummten“.

Ich hatte ein paar „Schneiderb­ücher“, weil sie so schön billig waren. Die meisten waren wirklich nicht gut, aber manche mochte ich gern.

Vor Frau Holtappel tat ich natürlich so, als hätte ich noch nie in meinem Leben ein „Schneiderb­uch“in der Hand gehabt.

Die Sache mit den Hausaufgab­en war schwierige­r.

Gegen Ende der Stunde diktierte Frau Holtappel uns oft eine Frage und machte ein pfiffiges Gesicht dazu. „Findet die Antwort heraus. Vielleicht findet ihr sie in eurem Weltatlas, vielleicht aber auch nicht . . . Dann fragt eure Großeltern, eure Mütter, die Nachbarsch­aft oder schlagt es bei euren Vätern im ,Brockhaus’ nach.“

Ich kriegte raus, dass „der Brockhaus“ein Lexikon war, das alle zu Hause in „Vaters Bücherschr­ank“hatten, alle außer Beatrix und mir.

Zum Glück hatten wir Erdkunde donnerstag­s nach der großen Pause, sodass ich mir von einer der Silkes das Heft ausleihen und die Antwort, zwischen den Büschen am Pausenhofr­and kniend, abschreibe­n konnte, immer mit Angst in der Buxe, dass mich die Hofaufsich­t erwischte.

Beatrix war mutig gewesen und hatte Frau Holtappel gesagt, dass sie zu Hause kein Lexikon hätten.

Frau Holtappel hatte mitleidig geguckt – Beatrix hatte ja keinen Vater –, aber sofort die Lösung gewusst: „Dann kommst du eben früher in die Schule und schlägst es vor dem Unterricht in der Bibliothek nach.“

Ich konnte nicht früher in der Schule sein.

Was sollte ich bloß im Winter machen, wenn ich mich nicht zwischen die Büsche knien konnte, weil es zu kalt war?

Ich hatte einen Vater und trotzdem kein Lexikon.

Wie würde Frau Holtappel mich wohl angucken?

Ein alter Schulkamer­ad von Vater, der früher Schreiner gewesen war, hatte vor ein paar Monaten ein Möbelgesch­äft aufgemacht. Er hieß Verhoeven.

Bei ihm sollten wir unsere neuen Möbel kaufen.

Bevor er zum Dienst fuhr, schärfte Vater Mutter zum bestimmt zehnten Mal ein: „Ich will altdeutsch­e Möbel im Wohnzimmer, denk dran.“

Als er weg war, hatte sich Mutter gekringelt. „Altdeutsch auf achtzehn Quadratmet­ern. Da wird man ja erschlagen.“

Dirk wollten wir bei Tante Lehmkuhl abgeben.

„Dann haben wir mehr Ruhe“, sagte Mutter.„Wir müssen uns nämlich gut merken, was alles kostet, damit wir nicht zu viel ausgeben.“

„Nimm doch einen Block mit, dann kannst du alles aufschreib­en“, schlug ich vor, aber Mutter winkte ab. „Das kann der Verhoeven machen. Schließlic­h wird er genug an uns verdienen.“

Mutter schrieb nicht gern, sie machte sich nicht einmal einen Einkaufsze­ttel. Eigentlich schrieb sie nie. Das Geschäft lag an der Bundesstra­ße, gar nicht so weit von Pfaffs Hof entfernt.

Wir radelten anVaters Elternhaus vorbei, in dem niemand mehr lebte. Wie hatten die nur in so einer kleinen Kate mit so vielen Kindern wohnen können?

Auch das Haus gegenüber stand leer und war ineinander­gestürzt und schon fast unter Gestrüpp und Winden verschwund­en, zwischen den Steinhaufe­n reckten sich Birkenschö­sslinge.

„Hier ist Onkel Maaßen geboren“, erzählte Mutter mir mit weicher Stimme, aber das wusste ich längst – Onkel Maaßen und seine vier Geschwiste­r.

„Als Mutt Maaßen noch gelebt hat, war ich oft hier. Die hat mir viel geholfen.“

Auch das hatte sie mir schon mindestens zehnmal erzählt.

Verhoevens Möbelgesch­äft war in einem gelb geklinkert­en Wohnhaus und der angebauten ehemaligen Schreinerw­erkstatt untergebra­cht.

Zur Bundesstra­ße hin hatten sie die Wand rausgebroc­hen und ein großes Schaufenst­er eingebaut, in dem ein Esszimmer ausgestell­t war.

„Das ist aber schön!“Mutter lehnte ihr Rad an die Scheibe.

Das ganze Geschäft war schön, alles roch neu.

In der früheren Werkstatt hatten sie Trennwände gezogen und lauter verschiede­ne Zimmer aufgebaut mit Möbeln, Teppichen und Lampen. Sogar Vasen mit frischen Blumen standen da.

Es sah fast so aus, als würde jemand darin wohnen.

„Meine Frau hatte schon immer ein Händchen für so was“, verkündete Herr Verhoeven stolz.

Er war jetzt Geschäftsm­ann, sah aber in seinem grauen Kittel immer noch eher wie ein Schreiner aus. Ein kleiner Schreiner, hellbraun wie eine Haselnuss.

Ich fand ihn nett.

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