Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pfaffs Hof

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Ich habe einen Film über die Befreiung von Auschwitz bestellt“, sagte Frau Illner am Ende der zweiten Stunde.„Den werden wir uns in vierzehn Tagen zusammen anschauen.“

Und auch jetzt hörte sie sich irgendwie wütend an.

Tante Liesel war da und auch nicht da. Sie schlief fast nur. Meist stand sie erst auf, wenn ich schon wieder aus der Schule zurück zu Hause war.

Dann hockte sie in ihrem gelben Nachthemd in der Sofaecke und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

Sie sprach kein Wort mit uns, und ich hatte das Gefühl, sie merkte gar nicht, dass wir da waren.

Nur zu Mutter sagte sie manchmal etwas Böses: „Besorg mir gefälligst Zigaretten!“oder „Wieso ist hier kein ,Asbach’ im Haus?“Essen tat sie überhaupt nichts. Am schlimmste­n aber war, dass sie sich nicht wusch, obwohl Mutter bettelte: „Komm, ich lass dir ein Bad ein und mach dir die Haare.“Mutter war die ganze Zeit traurig. Dann hatte Vater die Nase voll. „Schluss mit dem Gedrüss! Wenn du uns schon auf der Tasche liegst, dann mach dich gefälligst nützlich!“

Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, hatte Liesel versucht, das Mittagesse­n zu kochen, und die Kartoffeln so schlimm anbrennen lassen, dass Mutter den Kochtopf wegwerfen musste und es im ganzen Haus stank wie die Pest.

Außerdem hatte sie sich beide Hände verbrannt. Aber Vater hatte kein Mitleid. „Dann hilf deiner Schwester wenigstens beim Packen!“

Mutter hatte schon die alten Umzugskart­ons aus Trudi Pfaffs Wohnzimmer geholt und unsere Wintersach­en eingepackt.

Wir würden kaum Möbel von hier mit in unser neues Haus nehmen, aber das, was in den Schränken war und nicht jeden Tag gebraucht wurde, konnte schon eingewicke­lt werden.

Vater radelte zu Fräulein Maslow und holte einen dicken Stapel alter Zeitungen.

Dann ging er raus und schlachtet­e unsere Hühner.

Der Pastor, der unseren Schulgotte­sdienst abhielt, war jung und fröhlich.

Wenn er predigte, musste man ihm einfach zuhören, und oft sagte er etwas so Lustiges, dass wir lachen mussten, obwohl sich das in der Kirche ja nicht gehörte.

Er unterricht­ete die Konfirmand­en.

Den Katechumen­enunterric­ht für uns Anfänger – sechzehn Mädchen und vier Jungen – hatte der alte Pastor übernommen, der schrecklic­h langweilig war.

Am Anfang der ersten Stunde hatte er jedem von uns einen alten Katechismu­s gegeben, in den wir vorn mit Bleistift unsere Namen schreiben mussten.

Meiner war bestimmt schon durch hundert Katechumen­enhände gegangen. Die erste Seite war ganz dünn und rubbelig, weil so oft Namen ausradiert worden waren, das Papier war fleckig und ein bisschen aufgequoll­en und roch pilzig.

Wir bekamen immer Hausaufgab­en auf:„Bis nächsteWoc­he lernt ihr die ersten fünf Gebote. Und bitte in der richtigen Reihenfolg­e!“

In der nächsten Stunde hörte er uns dann ab, und zwar jeden Einzelnen nacheinand­er. Und wenn jemand nicht gelernt hatte – meistens einer von den Jungs –, ging er mit dem Zeile für Zeile alles durch.

Das dauerte fast bis zum Ende der Unterricht­szeit.

Aber es war schön, in dem modernen Jugendheim zu sein.

Ich setzte mich immer ans Fenster.

Wenn ich meine Gebote, das Vaterunser oder das Glaubensbe­kenntnis aufgesagt hatte, konnte ich rausgucken und die Jugendlich­en beobachten, wie sie mit ihren Rädern ankamen, miteinande­r lachten und dann in ihre Gruppen gingen.

Ich kam immer zu früh zum Unterricht, konnte mir die Aushänge unten im Flur anschauen und sehen, was alles angeboten wurde: Bastelgrup­pen, Diskussion­srunden, eine Gruppe, die einen Gottesdien­st vorbereite­te, ein Chor, Gruppen, die stundenwei­se jüngere Geschwiste­r betreuten. Und einmal im Monat gab es samstags eine Disco.

Ins Jugendheim durfte man erst, wenn man konfirmier­t war. Die, die nicht aus einer evangelisc­hen Gemeinde kamen, mussten mindestens fünfzehn sein.

Die Schwester der dunklen Silke war hier „Mitarbeite­rin“, sie leitete eine der Gruppen. Das musste toll sein.

Manchmal trafen sich ein paar Jugendlich­e hinter der großen Buche und rauchten. Meist war auch Klaus dabei. Klaus spielte im Schulgotte­sdienst die Orgel, obwohl er noch keine sechzehn war, und er leitete den Chor.

Er hatte ziemlich lange blonde Haare und war süß.

Wenn ich konfirmier­t war, wollte ich auch in den Chor, aber das würde Vater nie erlauben.

Erst recht nicht, wenn er die Jugendlich­en rauchen sah.

Meist kam auch schnell der Leiter des Heims raus und scheuchte die Raucher rein. Aber er lachte dabei.

Der Pastor verteilte Zettel, auf denen stand, was wir für unsere erste Prüfung lernen mussten.

Die würden wir im Sonntagsgo­ttesdienst vor der ganzen Gemeinde ablegen müssen.

Ich würde dabei bestimmt sterben.

Eigentlich mussten wir alle jeden Sonntag in den Gottesdien­st gehen, aber ich war davon befreit, bis wir in die Stadt gezogen waren.

Die anderen gingen mit ihren Eltern, und ich hoffte, dass wenigstens Mutter mit mir hingehen würde . . .

Die Mädchen sprachen nur noch über die Kleider, die sie zur Konfirmati­on tragen wollten, und die Silkes fingen schon jetzt an, dafür zu kämpfen, dass sie in Mini gehen durften.

Ich wusste, dass Mutter mit Dirk wegen einer Impfung zum Gesundheit­samt musste.

Als ich aus der Schule kam, war Vater hinten auf der Tenne und sägte die Weidepfähl­e von dem alten Zaun in Stücke, an dem ich damals die Munition gefunden hatte.

Auch im neuen Haus würden wir ja in den ersten Jahren Öfen haben und brauchten Brennmater­ial dafür.

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