Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein Sturz im Tiefschnee ist nicht so schmerzhaft, kann aber sehr gefährlich sein
man mittig auf dem Ski stehe, über dem Schwerpunkt, könne man ihn mühelos drehen. Klingt logisch.
Bis wir das erste Mal von der Piste in den Tiefschnee fahren. Nach zwei Schwüngen falle ich kopfüber. Ski suchen, weitermachen. „Verliert nicht das Vertrauen, wenn die Skispitzen im Schnee verschwinden“, sagt Engl. Überhaupt, sich zu trauen ist wichtig. Statt ängstlich nach einem Schwung die Schultern einzudrehen, sollen wir sie Richtung Tal geöffnet halten. „Nur die Beine bewegen sich“, sagt Engl. „Skifahren ist Kniefahren.“
Am zweiten Tag lässt er uns von der Bergstation amDaunjoch mit geschulterten Skiern auf einen Grat stapfen. Die Aussicht ist überwältigend: auf der einen Seite ein Gletschertal, auf der anderen Seite Reihen weißer Gipfel, gekrönt vom Zuckerhütl, demhöchstenGipfel der Stubaier Alpen. Jauchzen, Gruppenfotos. Und dann Demut lernen. Im schweren Filzschnee scheint das Gelernte mit einem Schlag vergessen. Die Ski kreuzen sich, flattern, verkanten. Buckel hebeln einen aus, Mulden stauchen zusammen.
„Die Geschwindigkeit zu kontrollieren ist das A und O im Gelände“, sagt Engl. Immer wieder lässt er uns den Rhythmuswechsel üben: kurze Schwünge für steilereAbschnitte, längere Carving-Schwünge für flache Hänge. Denn ein Sturz imTiefschnee mag nicht so schmerzhaft sein wie auf einer betonharten Piste. Aber er kann lebensgefährlich sein.
Warum, lernen wir am Abend, beim weniger vergnüglichen Teil dieses Kurses: Lawinenkunde. „Wenn man stürzt, belastet man den Hang mit dem bis zu Zehnfachen des Körpergewichts“, erklärt Engl. Und kann so eine Lawine auslösen. Engl erklärt Schwachschichten und Schneebretter. Und wie man einen Lawinen- lagebericht liest. Spätestens jetzt ist allen wieder bewusst, was für ein komplexes Thema Lawinen sind. Zum Glück gibt es ein paar einfache Faustregeln. DieWichtigste: BeiWarnstufe zwei unter 40GradHangneigung bleiben, bei Stufe drei unter 35Grad und bei Stufe vier unter 30 Grad.
„Achtet auf die Alarmzeichen“, sagt Engl bei einer Liftfahrt am nächsten Morgen. „Sehr ihr die Gangeln, die klei- nen Dünen und Riffel? Sie zeigen Triebschnee an, der vom Windhierher geblasenwurde.“Wenn er gebunden ist, kann er als Schneebrett abbrechen. Auch Risse in der Schneedecke, Wummgeräusche und spontane Lawinen sindAlarmsignale.
Wer ein Lawinenverschüttetensuchgerät, kurz auch LVS-Gerät genannt, dabei hat, der muss auch den Umgang damit beherrschen. Denn nach einer Lawine überleben 90 Prozent der Verschütteten die ersteViertelstunde, danach geht der Anteil jedoch rapide abwärts. Und bis die Bergrettung kommt, dauert es in der Regel 35 Minuten. Also heißt es: üben, und das jeden Winter. Das steht auch in diesem Kurs auf dem Programm.
Danach wird wieder Ski gefahren. Und langsam läuft es besser. Bis am dritten Tag der Knoten platzt. Und das bei einer simplen Übung, dem Hockeystopp: ein Stück Schuss fahren, dann die Ski quer stellen und abrupt bremsen. Plötzlichstellt sichdas Gefühl ein, jederzeit dieKontrolle zu haben. Man beschleunigt nicht mehr ungewollt, fällt nicht mehr bei jedemBuckel inRücklage. Und versteht in Triebschneemulden, warum Freerider so vom Powdern schwärmen.
Wie ein Spürhund führt uns Engl immer wieder zu relativ unzerfahrenen Hängen, unter einem Liftmasten, im Slalomzwischen Felsen hindurch. Ein weites Tal öffnet sich vor ihm. Und ein steiler Hang. Er gibt einen sehr österreichischen Tipp, bevor er abwärts wedelt. „Denkt euch einfach einen Wiener Walzer. Das ist der richtige Rhythmus.“