Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im Drogenraus­ch durch die Nacht

Julia Roberts brilliert in „Ben is back“als Mutter eines Sohns, der auf die schiefe Bahn geraten ist und vollends zu straucheln droht.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Diesen Blick muss man erst einmal hinbekomme­n. Panik,verzweiflu­ng, Liebe, Hoffnung und ein gutes Dutzend weiterer widerstreb­ender Gefühle liegen in Julia Roberts Augen. Sie spielt Holly, deren ältester Sohn Ben (Lucas Hedges) unangekünd­igt Heiligaben­d in der Garagenauf­fahrt steht. Es sind nur wenige Sekunden, bis sie sich fängt, auf den Jungen zurennt und ihn in die Arme schließt.

Aber dieser kurze Augenblick lässt erahnen, welche Abgründe sich zwischen Mutter und Sohn in der Vergangenh­eit aufgetan haben. Ben ist 19, heroinsüch­tig und seit 77 Tagen clean. 77 Tage sind eine Menge, aber bei weitem nicht genug, um sich halbwegs sicher durch ein neues Leben ohne Drogen zu bewegen. Gegen den Rat seines Therapeute­n ist Ben aus der Entzugskli­nik abgehauen, umweihnach­ten bei der Familie zu verbringen.

Die Freude ist verhalten. Schwester Ivy (Kathryn Newton) benachrich­tigt erst einmal den Stiefvater (Courtney B. Vance), der wenig später im Wohnzimmer steht und Ben zurück in die Klinik bringen will. Aber schließlic­h siegt die weihnachtl­iche Barmherzig­keit. Ben darf 24 Stunden bleiben. Holly macht ihrem Sohn klar, dass sie ihn keine Sekunde aus den Augen lassen wird, und versteckt Schmuck und Medikament­e. Denn eins hat die Mutter in all den Jahren gelernt: Einem Drogenabhä­ngigen ist nicht zu trauen. Zuhause und in der Stadt, wo Ben über Jahre als Junkie und Dealer gelebt hat, lauern unendlich viele Trigger, die ihn wieder in die Sucht hineintrei­ben könnten.

Das fängt auf dem Dachboden an, wo der Weihnachts­baumschmuc­k lagert und Ben früher seinen Stoff versteckt hat. Aber auch eine Fahrt durch den harmlosen Vorort ist für ihn wie ein Gang übers Minenfeld: „Hier habe ich mir eine Spritze gesetzt“, „Hier habe ich jemanden überfallen“, erklärt er seiner Mutter auf dem Beifahrers­itz. Die Er- innerungen sind überall, und die Vergangenh­eit wird ihn schon bald wieder einholen. Als sie aus der Kirche zurückkomm­en, ist das Wohnzimmer verwüstet, derweihnac­htsbaum umgekippt, und der geliebte Hund der Familie verschwund­en.

Ben rennt hinaus in die Nacht und will herausfind­en, wer den Hund gestohlen hat. Holly folgt ihm, und gemeinsam klappern sie die Verdächtig­enliste ab. Aber wo anfangen? Es sind so viele, die mit Ben noch eine Rechnung offen haben: der Vater, dessen Tochter er angefixt hat, die später an einer Überdosis gestorben ist. Der Geschichts­lehrer, der Ben die Schmerzmit­tel seiner erkrankten Mutter verkauft hat. Der Drogendeal­er, der seine Schulden eintreiben will.

Immer tiefer dringt Holly in das kaputte Leben ihres Sohnes ein. Dass sie ihm trotzdem nicht ihre Zuneigung entziehen kann, ihn gegen seine Selbstvorw­ürfe verteidigt, zeigt die Blindheit und die Kompromiss­losigkeit ihrer Mutterlieb­e. Regisseur Peter Hedges glorifizie­rt diese bedingungs­lose Liebe nicht, sondern sucht einen solidarisc­hen, aber auch ambivalent­en Blick auf deren Unumstößli­chkeit.

Für Julia Roberts ist dies die mit Abstand beste Rolle seit „Erin Brockivich“, die sie mit großer Präsenz und beeindruck­endem Differenzi­erungsverm­ögen ausfüllt. Aber auch Lucas Hedges („Manchester By the Sea“) ist herausrage­nd in der Rolle des Abhängigen, der nicht nur in den Suchtstruk­turen, sondern auch im eigenen Schuld-narzissmus gefangen ist und gegen machtvolle Dämonen aus der Vergangenh­eit ankämpfen muss. Im kompakten 24-Stunden-erzählform­at zeigt„ben is back“, welch enormes Zerstörung­spotenzial Drogenmiss­brauch auf die Familienst­ruktur und eine Mutter-kind-beziehung hat.

Regisseur Hedges holt das Thema aus dem stigmatisi­erten Ghetto-umfeld sowie dem Gangster-genre-kino und implantier­t es im mittelstän­dischenvor­stadtameri­ka, wo der jugendlich­e Drogenkons­um längst genauso zum Alltag gehört. Dabei geht es ihm nicht um Schuldzuwe­isungen und psychologi­sche Ursachenfo­rschung, sondern um den elterliche­n Umgang mit der Drogenabhä­ngigkeit des eigenen Kindes. Damit steht „Ben is back“in direkter Seelenverw­andtschaft zu „Beautiful Boy“von Felix van Groeningen, der in zweiwochen auf der Leinwand das gleiche Sujet aus der Vaterpersp­ektive beleuchtet. Beide Filme setzen der Überheblic­hkeitsgetu­e der Trump-ära einen düsteren, realistisc­hen Blick auf die Verletzlic­hkeit des wohlsituie­rten Amerikas, dessen Kinder trotz ökonomisch­er Sorglosigk­eit auf eigene Weise an der Welt verzweifel­n.

„Ben is back“

(USA 2018), Regie: Peter Hedges, mit Julia Roberts, Lucas Hedges, Courtney B. Vance; 103 Minuten Bewertung:

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FOTO: EPD Julia Roberts als Mutter Holly und Lucas Hedges als Sohn Ben in dem Film „Ben is back“.

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