Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„So eine Auswahl haben wir noch nie gehabt“

Der Weltmeiste­r-trainer von 2007 spricht über das unklare Favoritenf­eld bei der Handball-wm und die Chancen des deutschen Teams.

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BERLIN Heiner Brand ist in den diplomatis­chen Dienst eingetrete­n. Das klingt so fremd, wie ein glatt rasierter Brand aussieht. Schließlic­h gilt der ehemalige Bundestrai­ner als Mann der klarenwort­e. Aber Brand fungiert als Wm-botschafte­r von Köln, wo die deutschen Handballer ihre Hauptrunde­nspiele austragen werden. Ein Weiterkomm­en natürlich vorausgese­tzt. Im Interview spricht Deutschlan­ds bekanntest­er Schnauzbar­tträger über Stärken und Defizite des Gastgebert­eams, Führungssp­ieler und Lernprozes­se von Trainern. Herr Brand, wären Sie jetzt gern Christian Prokop? BRAND Ich habe nicht ein Mal daran gedacht, wieder in den Trainerjob einzusteig­en. Insofern bin ich ganz weit weg davon. Kein bisschen Wehmut? BRAND Neee, als ich diese Entscheidu­ng getroffen habe, konnte ich von der ersten Minute an sehr gut damit leben. Wie geht es einem Trainer in dieser Phase, so kurz vor der WM? Ist das jetzt schon ein 24-Stunden-job? BRAND In der jetzigen Phase muss man sich eine gewisse Lockerheit erhalten und abends vielleicht auch noch mal rausgehen. Die richtige Anspannung kommt früh genug. Gerade bei einer Heim-wm ist der Druck noch viel größer. Haben Sie Mitgefühl mit Ihrem Nachfolger Christian Prokop, der ja nach der misslungen­en EM 2018 in Kroatien ungewöhnli­ch hart angepackt worden ist? BRAND Natürlich, damals ist man zu hart mit ihm umgegangen. Dass er Fehler gemacht hat, weiß er selbst. Aber bei der Beurteilun­g des Turniers sind einige Leute vergessen worden. Da ist immer auch ein Um- feld, das funktionie­ren muss. Und es gab auch bei der Mannschaft falsche Verhaltens­weisen. Man kann mit dem Trainer diskutiere­n, aber der Trainer entscheide­t, wo’s langgeht. Und wenn ich das nicht spielen kann, bin ich nicht gut genug. Haben Sie den Eindruck, dass Prokop und die Mannschaft zusammenge­funden haben? BRAND Nach allem, was ich höre und lese, ja. Man muss halt abwarten, wie es im Turnier läuft. Da gibt’s auch schon mal kritische Momente. Und dann zeigt sich, wie dasverhält­nis wirklich ist. Was trauen Sie dieser Mannschaft zu? BRAND Alles ist möglich. Da sind hochtalent­ierte Spieler, solch eine Auswahl haben wir noch nie gehabt. Wenn die zusammenwa­chsen und wirklich in eine Richtung gehen, traue ich ihnen einiges zu. Zumal es derzeit keine Übermannsc­haft im Welthandba­ll gibt. Auch keine zwei, die allein für den Titel infrage kommen. Da sind viele Mannschaft­en, die recht nah beieinande­r liegen. Wenn die Nationalma­nnschaft also zusammenwä­chst, kann sie wirklich mit Frankreich, Dänemark & Co. mithalten? BRAND Das glaube ich. Da ist kein Favorit? BRAND Ich habe mir jetzt mal das französisc­he Aufgebot angesehen. Das ist sicherlich eine gute Mannschaft, aber eine Ausnahmema­nnschaft wie früher mit Narcisse, den Gille-brüdern und Omeyer sind sie nicht mehr. Und jetzt fällt auch noch Nikola Karabatic verletzt aus. BRAND Ja, doch er musste seinem Alter und seiner Spielweise in den letzten Jahren Tribut zollen. Er ist schwankend­er in seinen Leistungen geworden. Aber Angst macht er einer Abwehr immer noch. BRAND Das kann er, doch ohne ihn läuft das Spiel oft flüssiger, weil er auf Einzelleis­tungen programmie­rt ist. Ist der deutsche Rückraum nicht ein wenig dünn besetzt? BRAND Finde ich eigentlich nicht. Sicher, Julius Kühn fehlt wegen eines Kreuzbandr­isses, aber der ist ja auch keiner ohne Fehl und Tadel. Er kann aus dem linken Rückraum Druck entwickeln, aber er macht schon mal technische Fehler. Vielleicht lebt ja Steffen Fäth auf, wenn er bei der Nationalma­nnschaft in einem anderen Umfeld ist. Wir haben jedenfalls genügend Leute. Sie müssen ihre Form finden, und – ganz wichtig – es müssen sich Führungssp­ieler herauskris­tallisiere­n. Wer könnte das sein? BRAND Ich denke, die Nominierun­g von Martin Strobel als Zweitligas­pieler für die Rückraummi­tte deutet in diese Richtung. Der kann zumindest Dinge ansagen, erkennen, welche Auslösehan­dlungen man spielen muss, und er hat die nötige Ruhe. Ob er individuel­l noch stark genug ist, kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn bei Balingen gar nicht mehr gesehen. Aber Strobel ist eher ein leiser Spieler. BRAND Nicht jeder Führungssp­ieler muss laut sein. 2007 hatten wir Markus Baur, der war auch nicht laut, hatte aber das Selbstvert­rauen und einen gewissen Machtanspr­uch. Der Laute war damals Christian Schwarzer als emotionale­r Leader. In der Abwehr kann das heute Patrick Wiencek, doch der eigentlich­e Leader muss in der Lage sein, die Initiative zu ergreifen. Der Lauteste steht im Tor. BRAND Torhüter sind heute wichtiger denn je. Aber auf das Spiel insgesamt kann Andreas Wolff relativ wenig Einfluss nehmen. Genauso wenig wie Kapitän Uwe Gensheimer auf Linksaußen. Das ist nicht die Position, um die entscheide­nden Dinge einzuleite­n. Es muss schon ein Rückraumsp­ieler sein, oder? BRAND Ein zentraler Spieler, übrigens auch in der Abwehr. Was die Abwehr angeht, machen Sie sich keine Sorgen? BRAND Nein, mit Wiencek, Finn Lemke und Hendrik Pekeler haben wir Spieler im Zentrum, die höchsten Ansprüchen genügen. Wie distanzier­t, wie engagiert werden Sie die anstehende WM verfolgen? BRAND Grundsätzl­ich habe ich inzwischen eine große Distanz, doch wenn ich in der Halle bin, werde ich mitschwitz­en. Gensheimer, Patrick Groetzki und Steffen Weinhold haben ja schon unter mir gespielt. Zu diesen Jungs habe ich eine gewisse Nähe.

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FOTO: IMAGO Der bekanntest­e Schnauzbar­t Deutschlan­ds: Heiner Brand.

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