Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Sie hatten schon vor dem Haus gestanden, bevor er seine Reisetasche finden konnte. Die Reporter schienen von der dritten Garde zu sein. Übergewichtig, Junkfood fressend. Sie waren offensichtlich Veteranen, die einander lange kannten und gemeinsam bereits mehrere Belagerungen durchgeführt hatten. Einige hatten früher wahrscheinlich Telefone gehackt. Seit das britische Parlament die Leveson-untersuchung eingesetzt hatte, wurde Telefonabhören mit hohen Strafen geahndet. So etwas durften im großen Stil nur die Nachrichtendienste.
Klatschreporter schienen sich daher wieder auf die alten Methoden zu verlegen: Mülltonnen durchwühlen, Nachbarn belagern und im Glücksfall als Gasableser ins Haus gelassen werden, um schnell ein paar Familienfotos mitgehen zu lassen.
Hunt hatte irgendwo gelesen, dass die alte Reporternummer, sich als Pfarrer zu verkleiden, schon lange nicht mehr zog. Kein Mensch schien einem Journalisten abzunehmen, er sei ein Pfarrer – auch wenn das Kostüm noch so gut war. Selbst wenn es geklappt hätte, die meisten Leute hielten Pfarrer sicher nicht mehr fürvertrauenspersonen, die man ins Haus lassen sollte. In einer säkularisierten Gesellschaft wie Großbritannien kannte man einen Pfarrer sowieso nur noch aus dem Fernsehen.
Hunt wusste genau, was diese Journalisten jetzt herausfinden wollten. Ob er trank oder schwul war. Eine Eifersuchts-schwulengeschichte mit Stef wäre ideal für sie. Die Online-story stand wahrscheinlich schon, ganz egal, ob er nun aus seiner Tür trat oder nicht:
„Cambridge-prof ersticht ,Freund’ im Elfenbeinturm.“So in der Art. Man würde es für die Printausgabe variieren können.
Hunt hatte, wie jeder Intellektuelle in Cambridge, bisher die Medien verachtet und benutzt. Dank der Lobeshymnen, die die Zeitungen über seine Sendungen verfasst hatten, konnte er gute Tv-verträge aushandeln, und die Begleitbücher zu seinen Fernsehdokumentationen verkauften sich ausgezeichnet. Jetzt allerdings bereute er jedes einzelne Pr-foto, das jemals von ihm veröffentlicht worden war. Im Kontext des Todes wirkten alle diese Bilder frivol. Sicher wurden sie bereits ausgegraben und erschienen auf den Websites der Blogger: Hunt grinsend bei einem Dinner im Londoner Prominentenlokal Ivy mit einer überdimensionalen Champagnerflasche in der Hand; Hunt mit einem triumphierenden Blick bei einer Preisverleihung; Hunt mit einem süffisanten Lächeln neben der Kultur-, Medien- und Sportministerin; Hunt umgeben von adorierenden Studenten bei einer Exkursion in Washington. Er würde auf all diesen Bildern wie ein arroganter Dreckskerl aussehen.
Wussten sie, dass er im Haus war? Wussten sie es definitiv? Wenn er jetzt hinausging, was für ein Bild würde das ergeben?
Er sah im Moment nicht besonders gut aus. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich jung gefühlt, wie ein Vierzigjähriger. Natürlich, manchmal schlief er schlecht, seine Füße schmerzten gelegentlich, und die vielen Collegefeste hatten bei ihm immer öfter Sodbrennen ausgelöst. Diese Zeichen des nahenden Alters kamen viel zu früh, und er hatte sich vorgenommen, mehr Sport zu treiben. Bisher hatte er allerdings nie die Zeit dazu gehabt. Seit heute bereute er das. Was vor ein paar Stunden passiert war, hatte alles verändert. Sein ganzer Körper schmerzte, jeder Knochen tat ihm weh.
Jetzt machte Oliver doch tatsächlich dieser Meute die Tür auf! In der Hand schien er eine Pflanze zu halten. Die Reporter redeten auf ihn ein, aber Oliver starrte nur ausdruckslos auf ihre redenden Münder. Nach einer Weile deutete er auf den Rasen. Anscheinend war die Meute auf irgendeine seinervorgartenpflanzen getreten. Sie schienen sich dessen erst langsam bewusst zu werden und blickten nach unten. Einer von ihnen versuchte, einen umgeknickten Rosenstock wieder aufzurichten, während die anderen wie ertappte Kinder Rasenfetzen von ihren Schuhsohlen zupften. Während sie noch damit beschäftigt waren, machte Oliver bereits wieder die Tür zu. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik, aber Hunt konnte im Moment selbst das nicht mehr genießen.
Es war mittlerweile acht Uhr abends. Die Idioten standen immer noch draußen. Er verließ seinen Platz am Toilettenfenster und ging in die Küche. Licht wollte er nicht anmachen, aber er brauchte dringend etwas zu essen. Die Situation war lächerlich, er schlich durchs Haus wie Anne Frank. Würde man das Kühlschranklicht von der Straße aus sehen können? Er musste es riskieren. Wenigstens war noch etwas Käse da. Er hätte einkaufen sollen, aber wer rechnet schon damit, belagert zu werden?
Er setzte sich in sein dunkles Arbeitszimmer und wartete. Er wusste, sie würden irgendwann jeman- den von der Polizei schicken, und er wollte nicht im Bett überrascht werden. Ein Mann im Bett sah schwach aus, nicht vorbereitet, überrumpelt. Er war in den letzten Stunden genug überrumpelt worden, er wollte wenigstens etwas Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen. Für einen kurzen Moment überlegte er, Anne Winter anzurufen. Sie hatten seit ein paar Jahren ein sporadisches Verhältnis, nichts Ernstes, Anne war verheiratet und hatte zwei anstrengende Teenagerkinder. Er verwarf die Idee. Ihre Beziehung beruhte nicht auf gegenseitigem Trost, sie war rein physischer Natur.
Es war jetzt stockdunkel draußen, aber diese Idioten von der Presse schienen immer noch nichts Blöderes zu tun zu haben, als rumzustehen.wahrscheinlich hatten sie auch einen ihrer Leute im Hintergarten platziert. Gab es nicht irgendwo einen Terroranschlag, Ebolarückfall oder eine neue Bankenkrise? Wer kümmerte sich jetzt um Griechenland und den IS? War das nicht alles wichtiger? Was interessierte sie der Mord an einem Informatiker?wenn es nicht in einem Cambridger College passiert wäre, sondern in einer Sozialbauwohnung in King‘s Hedges, hätte kein Hahn danach gekräht. Aber Cambridge und Oxford hatten immer diesen Mythos, es war das Refugium der Elite, hier witterte jeder einen saftigen Skandal. Die Leute hatten einfach zu viele Folgen von Inspektor Morse gesehen.
Als sein Adrenalinkick mehr und mehr nachließ, war er dann doch irgendwann eingeschlafen. Es war gegen zwei Uhr früh, als Jenny vor ihm stand. Zuerst hatte er es nicht ganz begriffen.
(Fortsetzung folgt)