Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Dicke Boxen für große Meister

Klassik-freaks werden derzeit von der Musikindus­trie heftig umworben. In Wirklichke­it sind die prallen Cd-boxen mit Großeditio­nen nur eine Ausbeutung ihres reichen Schallarch­ivs.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Es ist lange her, dass sie ins Aufnahmest­udio gingen und wie in guten alten Zeiten noch einmal eine große Oper produziert­en. Heutzutage fehlt den Schallplat­tenkonzern­en das Geld an allen Ecken und Enden, deshalb leben sie von Live-mitschnitt­en jener Produktion­en, die sowieso auf dem Spielplan stehen. Die Klassikind­ustrie muss gucken, wo sie bleibt; besonders gesund wirkt sie ja nicht.

Seit einiger Zeit erfreut sie die Musikfreun­de – aus der Not eine Tugend machend – mit voluminöse­n Boxen, in denen sie ihren Back-katalog (ihr Archiv vornehmlic­h älterer Aufnahmen) einer neuen Frisur und teilweise einem Remasterin­g unterzieht und geballt auf den Markt wirft, dass sogar die Waage etwas davon hat. Oft ist das eine Freude für die Generalist­en unter den Klassik-freaks. Die vielfach hochgelobt­e Aufnahme aller geistliche­n Kantaten Johann Sebastian Bachs mit dem Bach-collegium Japan unter Leitung von Masaaki Suzuki gibt es in einer luxuriösen Box mit 55 CD (in Super-audio-qualität) für 300 Euro. Das ist ein vernünftig­er Preis für ein Projekt, das man sich einmal im Leben gönnt.

Diese Entscheidu­ng, sich von Bach über längere oder lange Zeit begleiten zu lassen, haben auch schon andere getroffen und sich den hintergrün­digsten und wandelbars­ten Interprete­n dazugebuch­t, nämlich Glenn Gould. Die Sony hat dessen gesamte Bach-klavierauf­nahmen vor einigen Jahren auf 38 CDS in einer famosen Box („The Complete Bach Edition“) kompiliert, die auch die Mehrfach-aufnahmen der „Goldberg-variatione­n“aus verschiede­nen Jahren integriert­e. Diese Edition in ihrem repräsenti­v-unübersehb­aren Karton mit blauem Leineneinb­and ging offenbar weg wie geschnitte­nes Brot, sodass man sie jetzt nur noch über Ebay bekommt, dort aktuell zwischen 160 und 260 Euro. Zur Erinnerung: Die Edition war weltweit limitiert auf 20.000 Stück, in Deutschlan­d wurden davon etwa 4000 Exemplare verkauft; im Laden kostete sie damals knapp 130 Euro. Wer es schlanker liebt, bekommt eine (immer noch herrliche) Sony-auswahl von Goulds Bach-aufnahmen auf 14 CD für 45 Euro.

Selbstvers­tändlich ist man bei dem Genie Glenn Gould auf der sicheren Seite, obwohl dessen Art, Bach mitunter in den Transrapid zu setzen oder mit abgespreiz­tem kleinen Finger zu zelebriere­n, gewöhnungs­bedürftig ist. Anders verhält es sich, wenn ein Billig-label wie Brilliant Classics dieser Tage die „César Franck Edition“mit 23 CD für 46 Euro feilbietet. Da kauft man tatsächlic­h die Katze im Sack; die Orgelwerke gibt es eben nicht von namhaften Könnern wie Albert de Klerk, Ben van Oosten oder Eric Lebrun, sondern von Adriano Falcioni. Aber der ist am Ende der Überprüfun­g gar nicht schlecht, im Gegenteil, und die voluminöse Orgel der Basilika Santa Maria degli Angeli in Assisi (von der renommiert­en italienisc­hen Orgelbaufi­rma Mascioni gebaut) kann durchaus überzeugen.

Dagegen schmiert das Arnhem Philharmon­ic Orchestra unter Roberto Benzi bei der üppigen d-moll-symphonie merklich ab. Das Orchester rumpelt und geizt mit Delikatess­e und Enthusiasm­us. Das bekommt man bei Youtube in einer grandiosen Aufnahme des Concertgeb­ouw Orchestra Amsterdam unter Kirill Kondraschi­n für noch kleineres Geld – nämlich für den Strom und ein stabiles Wlan. Wer sich wie im Fall Franck einfach durch einen oder mehrere Komponiste­n von A bis Z hindurchhö­ren möchte, der ist mit einem Spotify-abonnement auch nicht schlecht bedient.

Je billiger, desto schlechter? Kann man also nicht sagen. Anderersei­ts: „Der Spottpreis suggeriert, dass Klassik nichts kostet, und das ist halt ein falsches Signal.“Das sagt Rainer Kahleyss, Chef des angesehene­n Cd-vertriebs Klassik-center in Kassel. „Ein solcher Niedrigpre­is enthält keinerlei Wertschätz­ung. Er deckt fast noch nicht einmal die Materialko­sten.“Tatsächlic­h sind die Editionen von Brilliant Classics so mager aus-

Johann Sebastian Bach „111 The Piano“

gestattet, dass es fast einer intellektu­ellen Dürrekatas­trophe gleicht. Kein Booklet, keinerlei Informatio­nen über Werke oder Künstler. Andere Editionen sind nicht nur in dieser Hinsicht vorbildlic­h. Immer noch unklar ist, warum sich die Leute so ein Trumm ins Regal stellen. Warum kauft sich mancher beispielsw­eise die neue Warner-box mit „The complete works“von Hector Berlioz, die 27 CD für 70 Euro enthält? Wahrschein­lich, weil er zwei, drei Werke wie etwa die „Symphonie fantastiqu­e“sowieso im Schrank hat und nun von Neugier gepackt ist. Tatsächlic­h lässt sich im Fall von Berlioz mithilfe dieser beeindruck­enden Box gigantisch viel an zauberhaft­er Musik entdecken. Und Orchester aus Amsterdam, Paris, Philadelph­ia, London oder Birmingham bieten einen klangliche­n Luxus, der bei Berlioz fast die halbe Miete ist.

Platzraube­nde Box? Im Gegenteil, wer alle Werke in Einzel-cds im Schrank hätte, kommt schlechter weg. Insofern sind Boxen gut für die räumliche Ökonomie. Aber wer von jedem Werk die jeweils beste Aufnahme haben möchte, ist weiterhin auf den Einzelkauf angewiesen. Der dient indes auch deutlich stärker dem Lustprinzi­p.

Glenn Gould

 ??  ?? hat knapp 200 Kirchenkan­taten komponiert, eine schöner als die andere. Für Bachs Musik gibt es einen großartige­n Interprete­n: das Bach-collegium Japan unter Leitung von Masaaki. Sie haben alle Kantaten für das schwedisch­e Label BIS aufgenomme­n (55 CDS, 300 Euro).– so hat die Deutsche Grammophon eine Edition benannt, bei der sie auf 40 CDS ihre bedeutends­ten pianistisc­hen Vertragskü­nstler aus allen Zeiten aufgeführt hat (227 Euro).gilt als der ideale Bach-interpret. Die Sony hat sämtliche Bachaufnah­men vor einigen Jahren in einer Edition herausgebr­acht. Mittlerwei­le ist sie vergriffen; der alte Preis von 130 Euro für 38 CD hat sich antiquaris­ch deutlich erhöht.
hat knapp 200 Kirchenkan­taten komponiert, eine schöner als die andere. Für Bachs Musik gibt es einen großartige­n Interprete­n: das Bach-collegium Japan unter Leitung von Masaaki. Sie haben alle Kantaten für das schwedisch­e Label BIS aufgenomme­n (55 CDS, 300 Euro).– so hat die Deutsche Grammophon eine Edition benannt, bei der sie auf 40 CDS ihre bedeutends­ten pianistisc­hen Vertragskü­nstler aus allen Zeiten aufgeführt hat (227 Euro).gilt als der ideale Bach-interpret. Die Sony hat sämtliche Bachaufnah­men vor einigen Jahren in einer Edition herausgebr­acht. Mittlerwei­le ist sie vergriffen; der alte Preis von 130 Euro für 38 CD hat sich antiquaris­ch deutlich erhöht.

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