Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Du hast keine Ahnung, was da draußen wirklich los ist – dass dein Disneyland jederzeit abbrennen kann.“Er lachte. Jetzt hatte er sie. „Sag mal, Jenny, bist du das wirklich? Eineverteidigerin des Überwachungsstaates? Was ist mit den Bürgerrechten, für die du so gekämpft hast? Oder war das all die Jahre über nur eine gute Theatervorstellung?“
„Noch mal.warum hast du David als Doktorand angenommen?“
„Natürlich hat er noch eine leichte Depression! Er hat dafür ja einen guten Grund, im Gegensatz zu den meisten meiner anderen neurotischen Studenten. Seine Mutter hatte zwar, soweit ich mich an sie erinnern kann, nichts Mütterliches an sich, aber er scheint sie zu vermissen. Das ist das Normalste der Welt. Er brauchte Ablenkung, und er ist stabil genug, um wieder zu studieren. Er ist nun mal der intelligenteste Student, den ich zurzeit habe. Und nein, ich weiß, was jetzt kommt. Ich habe darüber nie mit Stef geredet. Ich hätte ihm nie so eine Karte geschickt, selbst wenn wir noch miteinander reden würden. Ich kontaktiere keine Eltern, wenn es Probleme gibt. Die Studenten sind über achtzehn.wenn es ernst wird, wende ich mich an den behandelnden Arzt.“„Aber das hast du nicht.“„Nein, Jenny, das habe ich nicht. Weil es nichts zu reden gab. David ist in Ordnung. Das heißt, bis jetzt war er das.“„Er ist labil.“„Welcher Student ist das heutzutage nicht? Ich habe in den letzten Jahrzehnten Studenten in allen Facetten erlebt. Sensibel, stark, reif, unreif. Am aggressivsten waren immer die Pazifisten. Das sind furcht- einflößende Fanatiker. Der Großteil der Studenten hier besteht aus verwöhnten kleinen Egomanen, die sich für begnadet halten und wütend werden, wenn die Welt nicht so funktioniert, wie sie es wollen. Sie schmeißen in ihrer Wut jedoch nicht mehr die Scheiben ein, wie wir das damals gemacht haben, sondern kaufen sich mit der elterlichen Kreditkarte ein paar weiche Drogen. Aber warum interessiert dich ausgerechnet Davids Psyche? Er hat seinen Vater sicher nicht umgebracht. Ich denke, du konzentrierst dich auf irgendwelche Waffenspione im Science Park?“
„Ich verstehe nicht, warum Stef in deinem Zimmer umgebracht wurde.“„Da sind wir dann schon zu zweit.“Jenny schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile halb drei Uhr früh, und sie wirkte müde. „Wir müssen uns auf eine Linie für die Presse und die Unileitung einigen, Hunt.“
„Was konkret wollt ihr von mir? Soll ich vor laufenden Kameras um einen ehemaligen Studienfreund weinen, der mich nicht ausstehen konnte?“
„Etwas Gefühl wäre gut. Wenn du es schaffst.“„Erspar mir das.“„Wir haben etwas vorbereitet. Du hältst dich am besten an dieses Memo.“
Sie legte ein Blatt Papier vor ihn hin. Wie bei dem Collegedinner vor ein paar Monaten fing sie auch jetzt wieder stark zu schwitzen an. Es irritierte ihn.
„Bist du in deinem Alter immer noch in der Menopause? Ich dachte, es gibt gute Medikamente dafür.“
Zu seiner Überraschung wurde sie nicht wütend. Sie lächelte ihn an, als ob er aufrichtiges Interesse an ihrem Zustand gezeigt hätte.
„Man sollte keine Hormonpräparate nehmen, wenn man Krebs im dritten Stadium hat.“
Er sah sie an. Er kannte sie, seit er siebzehn war. Zu seiner Überraschung musste Hunt feststellen, dass seine Hände anfingen zu zittern. 21. Januar 2015 8 Jesus Lane / Caffe Nero Cambridge „Wera, mach die Scheißtür auf!“Jasper trommelte so laut gegen Weras Zimmertür, bis sie aus dem Bett aufstand und ihm aufmachte. Er schaute mit einer gewissen Verachtung auf ihren Snoopy-schlafanzug.
„Was ist los mit dir? Bist du auf einem embryonalen Rückzugstrip oder was?“„Es geht mir nicht gut.“„Ach komm, stell dich nicht so an! Du musst hier raus, sonst wirst du mit der Sache nie fertig.“„Jasper . . .“„Ich lad dich ein, okay? Großes Frühstück im Caffe Nero. Polina wartet schon auf uns.“
Jasper hatte das Caffe Nero in der King‘s Parade absichtlich ausgesucht. Jemand hatte ihm erzählt, dass Professor Christopher Clark hier regelmäßig seinen Kaffee trank. Angeblich hatte Clark mithilfe besonders starker Espressi sein gesamtes Buch über den Ersten Weltkrieg hier zu Ende schreiben können. Jasper hatte Clark zwar noch nie im Nero gesehen, aber er wollte auf ein Treffen gut vorbereitet sein. Er brauchte jetzt dringend einen neuen Doktorvater und vorzugsweise einen skandalfreien. Was auch immer bei den Ermittlungen herauskam, Hunts Name war von nun an toxisch.
Das Café war dunkel, und Jasper wählte den einzig gut beleuchteten Tisch. Er setzte sich strategisch mit Blick auf die Eingangstür und drapierte Polina undwera links und rechts von sich in die braunen Clubsessel. Wera schien verstummt zu sein, also wandte er sich zuerst an Polina. „Wie geht es David?“„Was glaubst du, wie es ihm geht?“„Soll man ihn besuchen?“, fragte Jasper.
Polina schaute ihn verständnislos an. „Besuchen?“
„Einen Kondolenzbesuch machen oder wie man das nennt?was sagt er denn zu alldem? Was, glaubt er, ist passiert? Er muss doch eine Theorie haben.“
„Bist du jetzt Polizist geworden?“, fragte Polina.
Jasper ignorierte die Verachtung in ihrer Stimme. „Fragst du dich das denn nicht auch? Warum wird Davids Vater ausgerechnet im Zimmer von Hunt umgebracht? Wie wahrscheinlich ist das?“
Wera richtete sich in ihrem Sessel auf. „Hunt und Davids Vater haben vor langer Zeit zusammen studiert.“
„Ja sicher“, sagte Jasper ungeduldig, „das weiß ich auch. Aber sie konnten sich nicht ausstehen. Sie waren Konkurrenten.“
„Der eine ist Historiker, der andere Informatiker. Worum sollen sie konkurrieren?“, entgegnete Wera.
„Du hast wirklich keine Ahnung von Männern, wir konkurrieren um alles. Aber in diesem Fall steckt noch viel mehr dahinter. Habt ihr schon mal von dem Garden-house-aufstand gehört?“
(Fortsetzung folgt)