Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wird die AFD jetzt abgehört?
Der Verfassungsschutz erklärt die rechtspopulistische Partei zum Prüffall. Was das bedeutet und welche Konsequenzen es hat.
BERLIN Am Ende seines Auftritts zitiert Thomas Haldenwang das Grundgesetz, Artikel 1, die Würde des Menschen. Haldenwang, 58, seit dem 15. November Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, liest auch den zweiten Satz vor: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“Er ergänzt: „Dieser Pflicht bin ich heute nachgekommen.“Soeben hat er verkündet, dass der Verfassungsschutz die AFD zum „Prüffall“und die Jugendorganisation Junge Alternative (JA) sowie den rechtsnationalen „Flügel“als „Verdachtsfall“einstuft. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu.
Was bedeutet Prüffall?
Die Begrifflichkeit ist etwas verwirrend. Wenn eine Partei wie die AFD als Prüffall eingestuft wird, dann ist dies die Vorstufe zur nachrichtendienstlichen Beobachtung. Das heißt, bezogen auf die Gesamtpartei darf der Verfassungsschutz noch keine Observationen, V-leute oder Abhöraktionen einsetzen. Das kann sich aber im Laufe der Zeit ändern. Es wird nämlich offiziell geprüft, ob die AFD tatsächlich bestrebt ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Vorerst bedient sich eine Einheit des Bundesamts öffentlich zugänglicher Quellen, also: Zeitung, Internet, Radio, Fernsehen. Das aber ist keine Selbstverständlichkeit. Thomas Haldenwang sagte am Dienstag:„es geht darüber hinaus, was wir bislang getan haben.“Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart sagt: „Das ist kein Routinevorgang.“
Was bedeutet Verdachtsfall?
Sowohl der rechtsnationale „Flügel“um den Thüringer Afd-fraktionsvorsitzenden Björn Höcke als auch die Junge Alternative werden fortan vom Geheimdienst beobachtet. Bei diesen Gruppen, unter denen sich Parlamentarier aus Bund und Ländern befinden, wollen die Verfassungsschützer eben jene nachrichtendienstlichen Mittel einsetzen, die bei der Gesamtpartei vorerst ausgeschlossen sind. Höcke oder der Ja-vorsitzende Damian Lohr etwa müssen damit rechnen, dass sie vom Verfassungsschutz überwacht werden. Bei den Organisationen handelt es sich laut Haldenwang um extremistische Bewegungen.
Womit begründet der Verfassungsschutz sein Vorgehen?
Haldenwang sagt: „Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der AFD vor.“Diese seien indes noch nicht so verdichtet, dass eine Gesamtbeobachtung der Partei infrage komme. Dass derverfassungsschutz nun aktiv wird, begründet der Präsident mit etlichen Aussagen von Funktionsträgern und Mitgliedern der AFD, die sich gegen die Menschenwürde richten. Gemeint sind völkisch-nationalistische, fremdenfeindliche Aussagen, die etwa Flüchtlinge grundsätzlich herabwürdigen. Die Behörde will herausfinden, ob solche Äußerungen charakteristisch für die AFD sind.
Warum werden JA und „Flügel“beobachtet?
Diese Gruppen treten laut Haldenwang radikaler und aggressi- ver auf als die Gesamtpartei. „Die JA respektiert die Menschenwürde nicht“, sagte der Präsident des Verfassungsschutzes. Begriffe wie „Messermigration“, „triebgesteuerte Migranten“oder „Bevölkerungsaustausch“seien menschenunwürdig oder wendeten sich unmittelbar gegen das Demokratieprinzip. Zudem stellten Funktionsträger der JA das Gewaltmonopol des Staates infrage. Der „Flügel“habe eine „völkische Haltung und eine aggressive Wortwahl“. Ausländer und Migranten würden ausgegrenzt und verächtlich gemacht, so Haldenwang. Zudem verharmlose die Gruppe „den historischen Nationalsozialismus“.
Wie reagiert die AFD?
Die Fraktionsvorsitzenden der AFD im Bundestag, Alice Weidel und Alexander Gauland, äußerten sich unmittelbar nach Haldenwangs Auftritt. Gauland kündigte an, juristisch gegen die Entscheidung des Verfassungsschutzes vorzugehen. Weidel sagte:„wir wissen seit heute, warum Maaßen gehen musste.“Mit Haldenwangsvorgänger im Amt, HansGeorg Maaßen, wäre eine derartige Entscheidung der Behörde nicht möglich gewesen, so Weidel. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte Maaßen im November entlassen, nachdem dieser sich öffentlich gegen die Bundesregierung gestellt hatte. Maaßen war zudem in die Kri- tik geraten, weil er sich mit Spitzenfunktionären der AFD zum inoffiziellen Austausch traf. Unter ihm hatte das Bundesamt noch im März 2018 entschieden, die AFD nicht näher zu beobachten.
Was ist juristisch möglich?
Der Verfassungsschutz muss verhältnismäßig vorgehen. Parteien sind in Artikel 21 des Grundgesetzes besonders geschützt. Sie gelten so lange als verfassungsmäßig, bis das Verfassungsgericht sie verbietet. „Mit dem Vorgehen des Verfassungsschutzes ist eine gewisse Stigmatisierung verbunden“, sagt Staatsrechtler Degenhart. Daher sei es „ernstlich zu begründen“. Er hält die Voraussetzungen einer genauen Überprüfung durch den Verfassungsschutz bei der AFD für erfüllt. Klagen könnte die Partei nicht unmittelbar vor dem Bundesverfassungsgericht, weil der Geheimdienst kein Verfassungsorgan ist. Die Partei müsste sich zunächst jedenfalls an ein Verwaltungsgericht wenden. Abgeordnete der AFD können sich ebenfalls gerichtlich wehren, sie genießen gesonderte Rechte.
Wann wurde zuletzt eine Partei überwacht?
Jahrelang hat sich der Linken-politiker Bodo Ramelow, der heutige Ministerpräsident Thüringens, gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz gewehrt. 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Ramelow einer „anti-demokratischen Bestrebung“unverdächtig sei. Die Linke stand seit ihrer Gründung im Jahr 2007 unter Beobachtung desverfassungsschutzes des Bundes und einiger Länder, zudem wurden einzelne Abgeordnete überwacht. Erst 2014 wurde dies komplett eingestellt.