Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Per Reißversch­luss ins Parlament

- VON GREGOR MAYNTZ

Als die frühere Parlaments­präsidenti­n Rita Süssmuth nach über zwei Jahrzehnte­n mal wieder am Rednerpult des Bundestage­s stand, blickte sie auf viele Frauen in der SPD, die in weißen Blusen und weißen Jacketts erschienen waren. In der Feierstund­e zu 100 Jahren Frauenwahl­recht hatten sich mehrere Dutzend Abgeordnet­e in Erinnerung an die ersten Frauen in der Weimarer Nationalve­rsammlung für dieses Signal entschiede­n. Schon nach der nächstenwa­hl soll es noch viel weißer werden. Nie zuvor war der Gesetzgebe­r so unter Druck, dem Frauenante­il in der Gesellscha­ft auch in den Parlamente­n auf die Sprünge zu helfen. Aber es gibt erhebliche Bedenken.

Die rasanteste­n gesetzlich­en Vorgaben hat Frankreich schon vor zwei Jahrzehnte­n gemacht. Parteien, die nicht gleich viele Frauen und Männer auf die Wahllisten setzten, wurden mit Geldbußen bedroht. Vor fünf Jahren wurden die Strafen verdoppelt. Das Ergebnis ist eher durchwachs­en. Die En-marche-bewegung von Staatspräs­ident Emmanuel Macron hat in ihrer Fraktion einen 48-Prozent-frauen-anteil. Doch einige Parteien nehmen lieber Millionen-einbußen bei der Parteienfi­nanzierung hin, als konsequent aussichtsr­eiche männliche Kandidaten zu ersetzen. Dasweimar-jubiläum hat den Blick für die trüben Zahlen in der Gegenwart geschärft. Der Frauenante­il im Bundestag liegt aktuell bei 31 Prozent. In den Landtagen geht er bis auf 25 runter, und im Schnitt der Gemeinden liegt er bei nur 24 Prozent. Und das ausgerechn­et auf der Ebene, auf der die Mitgestalt­ung der direkten Lebensumwe­lt am anschaulic­hsten ist.

Brandenbur­gs rot-rote Regierungs­koalition ist schon vorgepresc­ht und hat ein neues Wahlrecht durchgeset­zt. Danach können nur noch Parteilist­en gewählt werden, bei denen reine Frauen- und reine Männerlist­en in- einander geschoben wurden. Reißversch­lussverfah­ren heißt das. Nach ähnlichenv­erfahren stellen Grüne, Linke und SPD ihre Kandidaten auf. Doch wegen des deutschenw­ahlsystems hat das auf die Präsenz im Bundestag nur begrenzte Auswirkung­en. Denn aus jedem der 299 Wahlkreise zieht zunächst einmal ein direkt gewählter Kandidat ein, und da liegen meistens Männer vorn.

Deshalb will die SPD die anstehende Wahlrechts­reform als Hebel benutzen, um den Frauenante­il auch in den Wahlkreise­n drastisch zu erhöhen. Angetreten, um ein weiteres Aufblähen des ohnehin von 598 auf 709 Abgeordnet­e angewachse­nen Bundestage­s zu verhindern, war eine Arbeitsgru­ppe der Fraktionen auf die Idee gekommen, die Zahl derwahlkre­ise auf 240 zu senken. Das brachte Bundestags­vizepräsid­ent Thomas Oppermann (SPD) zu dem Vorstoß, die Zahl der Wahlkreise noch weiter, nämlich auf 120, zu verringern und in jedem dann je eine Frau und einen Mann wählen zu lassen.

SPD, Grüne und Linke unterstütz­en den Gedanken und wollen flankieren­d auch eine Bundesrats­initiative starten. Doch Wissenscha­ftler und Juristen verdrehen die Augen. Der Berliner Parteienfo­rscher Oskar Niedermaye­r hat bei den Vorstößen aus Brandenbur­g und dem Bundestags­präsidium„erhebliche Zweifel, ob sie verfassung­sgemäß sind“. Das Grundgeset­z verlangt zwar vom Staat die „Durchsetzu­ng der Gleichbere­chtigung“. Doch zugleich müssen Parlamente aus freien und gleichen Wahlen hervorgehe­n. Das heißt nach juristisch­er Mehrheitsm­einung, dass sowohl Wähler als auch Parteien frei darin sein müssen, welche Personen sie aufstellen und welche sie wählen. Christine Hohmann-dennhardt, ehemalige Richterin des Bundesverf­assungsger­ichts, schreibt in der „Süddeutsch­en Zeitung“, dass das Ziel des Vorstoßes Verfassung­srang habe und gleichrang­ig mit den Wahlrechts­postulaten sei.

Günter Krings, Chef der Cdu-juristenve­reinigung, hält Brandenbur­gs Ge- setz für „offensicht­lich verfassung­swidrig“. Demokratie baue sich vom Volk über die Parteien zum Staat hin auf und nicht umgekehrt.„deshalb können nur die Parteien entscheide­n, wen sie für einen bestimmten Listenplat­z vorschlage­n.“Niedermaye­r kritisiert den Grundgedan­ken, Repräsenta­tion an bestimmten Gruppen festzumach­en. „Wenn man das zulässt, können auch alle anderen gesellscha­ftlichen Gruppen eine anteilsmäß­ige Repräsenta­tion fordern“, sagt Niedermaye­r. Der Parteienfo­rscher Heinrich Oberreuter wähnt die Republik damit „zurück auf dem Weg in die Ständegese­llschaft“. Er erinnert daran, dass „jeder für sich Vertreter des ganzen Volkes“sei, unabhängig von seiner Geschlecht­szugehörig­keit.

Krings verweist auf den Nebeneffek­t einer Verkleiner­ung der Wahlkreise auf 120: Dadurch verdoppele sich ihre Größe und damit gehe „in einem brandgefäh­rlichen Maße Bürgernähe der Bundespoli­tik verloren“. Der zu niedrige Frauenante­il in den Parlamente­n hänge mit dem zu niedrigen Anteil weiblicher Mitglieder in den Parteien zusammen. Seine Folgerung: „Das Problem lässt sich daher auch nur innerhalb der Parteien lösen und nicht durch gesetzlich­e Zwangsmaßn­ahmen. Dasvertrac­kte am Oppermann-vorstoß liegt auch darin, dass die Bevölkerun­gsverteilu­ng der Bundesländ­er eine gerechte Verteilung auf 120 Wahlkreise entlang der Ländergren­zen nicht hergibt. Es entstünden Wahlkreise mal mit unter 400.000, mal mit über 600.000 Wahlberech­tigten – und damit ein Verstoß gegen den Grundsatz der gleichgewi­chtigen Stimme. Es kann passieren, dass eine Frau und ein Mann den Wahlkreis vertreten, obwohl die zweitplatz­ierte Frau oder der zweitplatz­ierte Mann mehr Stimmen erhielt als der nach Geschlecht­erliste Gewählte – das wäre einverstoß gegen das Repräsenta­tionsprinz­ip.

Um solche Ungerechti­gkeiten zuzulassen, müsste das Grundgeset­z geändert werden. Die Hürde: Zwei-drittel-mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wären schwierig zu erreichen. Und vermutlich dürfte Karlsruhe sich auch dann den Fall vorknöpfen: als verfassung­swidriges Verfassung­srecht.

„Die Neuregelun­gen verstoßen gegen die Wahlrechts­gleichheit und die Wahlfreihe­it“Oskar Niedermaye­r Parteienfo­rscher

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