Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Ordenslebe­n steht nicht unter Naturschut­z“

Sie wurde als frühere Nonne Opfer des sexuellen Missbrauch­s durch einen Priester. Nun fordert sie auch eine völlig neue Ordenskult­ur.

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DARMSTADT Doris Wagner ist 19 Jahre alt, als sie in ein Kloster der katholisch­en Kirche in Bregenz eintritt. Es beginnt eine Zeit der Entmündigu­ng und der Isolation. Und sie wird ein Opfer des sexuellen Missbrauch­s durch einen Priester. 2011, mit 28 Jahren, findet sie die Kraft, den Orden zu verlassen. Vor wenigen Tagen führte sie dazu ein vierstündi­ges Tv-interview mit dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn. Ein Gespräch über die furchtbare Situation vieler Nonnen, wie sie jüngst auch Papst Franziskus angesproch­en hat. Sind Sie überrascht vom öffentlich­en Interesse am Schicksal vieler Ordensfrau­en, die von katholisch­en Priestern missbrauch­t wurden? WAGNER Jahrzehnte­lange haben Frauen für diese Öffentlich­keit gekämpft. Ich habe das Gefühl, dass sich das Thema jetzt nicht wieder totschweig­en und in die Kiste packen lässt, wie es von Rom aus so viele Jahre funktionie­rt hat. Die Verantwort­ungsträger der Kirche stecken in einer Defensivpo­sition. Jetzt ändert sich etwas, vielleicht noch nicht in der Kirche, aber in der öffentlich­en Wahrnehmun­g. Und es gibt es eine Bereitscha­ft von Betroffene­n, sich zu äußern. Dazu hat auch beigetrage­n, dass Kardinal Christoph Schönborn mir vor laufenden Kameras gesagt hat, dass er mir glaubt. Das war mir wichtig. Wie wichtig war dieser Satz für die Debatte innerhalb der Kirche? WAGNER Es war ein politische­r Akt von ihm als Signal an die Mitbrüder und die Opfer. Nach all der Verweigeru­ngshaltung und Vertuschun­gskultur in der Kirche war ich darum unendlich gerührt. Es kam in diesem Augenblick darauf an, dass ein Mann dieses Kirchenran­ges seine Position verlässt, aus der Defensive herauskomm­t und nicht mehr den Reflex hat, jetzt unbedingt die Institutio­n Kirche schützen zu müssen. Haben die Worte des Papstes zum Missbrauch in Ordensgeme­inschaf- ten Sie erfreut – oder auch geärgert? WAGNER Beides. Ich kann es bis heute nicht verstehen, dass diese Fälle – die in ihrer Schrecklic­hkeit und in ihrem Ausmaß eigentlich seit 2001 bekannt sein müssten – nie die große Aufmerksam­keit gefunden haben. Es schien der Öffentlich­keit lange egal zu sein, dass Frauen so unendlich gelitten haben; dass sie ausgebeute­t wurden, missbrauch­t worden sind und gestorben sind. Und das ist für mich noch immer unfassbar. Das macht mich bis heute wütend und weckt in mir ein Gefühl der Hilflosigk­eit. Natürlich sind dieworte des Papstes vor diesem Hintergrun­d wunderbar. Anderersei­ts bin ich sprachlos, wie es möglich ist, dass er Missbrauch zwar zugibt und sogar das Wort der Sklaverei verwendet, um dann einfach zu behaupten, man hätte da schon was getan und müsse jetzt mehr tun. Ohne konkrete Belege! Das geht nur in der Kirche. Dass der Papst die Kühnheit besitzt, keine Pläne zu präsentier­en oder auch nur den Anschein zu erwecken, er hätte einen Plan, macht mich wirklich sprachlos. Hatten Sie bei Ihrem Eintritt in den Orden von Missbrauch­sfällen gehört? WAGNER Ich hatte noch nie davon gehört und konnte mir das auch absolut nicht vorstellen. Selbst in dem Moment noch nicht, als der Pater in mein Zimmer kam und begann, mich auszuziehe­n. Ich habe nicht wirklich glauben können, dass er das jetzt tut. Auch als ich ausgetrete­n bin, glaubte ich immer noch, ich sei die einzige Ordensfrau, der das passiert ist. Und das wird anderen Betroffene­n damals bestimmt auch so ergangen sein. Haben Sie den Glauben an die Kirche verloren? WAGNER Mein erstes Gefühl damals war: Ich muss darüber schweigen, um die Kirche zu schützen. Und: Gott verlangt jetzt von mir, dass ich das aushalte und ich darüber schweige. Ich glaubte, genau das sei die Prüfung, die Gott für mich ausersehen hat. Aber dann dachte ich mir, wenn Gott wirklich so ist, dann bin ich ihm nicht verpflicht­et, dann hat er meinen Dienst und Glauben gar nicht verdient. Da kamen dann erstmals Selbstmord­gedanken bei dem Gedanken, ich müsse mich Gott jetzt irgendwie entziehen. Wie entkamen Sie der Notlage? WAGNER Ich habe diese wunderbare Erfahrung gemacht, meinen Mann kennenzule­rnen – der auch in dieser Gemeinscha­ft gelebt hat – und mit ihm einen Menschen vor mir zu haben, der mich gesehen hat. Und der mir das Gefühl gegeben hat, ich bin ein wertvoller Mensch. Wenn Gott existiert, dann hat er mir diesen Menschen geschickt. Diese Erfahrung hat mir ein anderes Gottesbild möglich gemacht. Können Sie beschreibe­n, wie sich Ihre Art zu glauben gewandelt hat? WAGNER Meinen alten Glauben und meine absurde Vorstellun­g, dass es eine kleine Gruppe von Männern in Rom gibt, denen Gott seinen Willen mitteilt und die dann verpflicht­et sind, dem Rest der Welt diesen Willen kundzutun – diese absurde Vorstellun­g habe ich natürlich komplett aufgegeben. Ich bin nach wie vor ein gläubiger Mensch, vielleicht sogar mehr als zuvor. Was muss sich ändern? WAGNER Die Kultur des Ordenslebe­ns muss sich grundsätzl­ich än- Doris Wagner hat sich mit ihren Missbrauch­serfahrung­en auch schreibend auseinande­rgesetzt.

„Spirituell­er Missbrauch in der katholisch­en Kirche“. Herder, 208 Seiten, 20 Seiten

Ein Porträt von Doris Wagner ist am 17. Februar um 17.30 Uhr in der ARD in „Echtes Leben“zu sehen.

Im Fernsehen

dern. Warum sollen junge Frauen nicht in einen Orden eintreten können und dann studieren oder etwas Cooles machen und abends auch ausgehen? Warum müssen Ordensfrau­en hinter Gitter verschwind­en, von morgens bis abends Gemüse schälen, verfügbar und unterwürfi­g sein? Dieses Ideal muss aufhören, dass Ordensfrau­en keinen Namen haben, keine Identität, kein eigenes Ich besitzen, keine Bedürfniss­e und Pläne haben dürfen. Ordenslebe­n muss nicht unter Naturschut­z gestellt werden sollte. Wenn es das nicht mehr gibt, gibt es das nicht mehr. Aber wenn Menschen das leben wollen, dann dürfen sie nicht ihre Selbstbest­immung aufgeben müssen und unter die Räder kommen. Das wäre ein Kulturwand­el in der Kirche, der auch das Frauenbild betrifft. Bald beraten Bischöfe in Rom über den Missbrauch­sskandal. Ihre Erwartung? WAGNER Ich glaube nicht, dass es zu irgendetwa­s führt. Ich nehme das Treffen als einen Akt der Hilflosigk­eit wahr. Die meisten Bischöfe sind buchstäbli­ch mit ihrem Latein am Ende: Sie haben keinen Plan, sind defensiv, wollen noch immer nicht verstehen, worum es eigentlich geht. Da ist viel Schwäche spürbar.

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FOTO: WDR/GOOD KARMA PRODUCTION­S Doris Wagner in Rom.

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