Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Hilferuf der Wohnungswi­rtschaft

- VON CHRISTOPH KLEINAU

ANALYSE Die angespannt­e Situation auf dem Wohnungsma­rkt setzt in der Politik große Kreativitä­t frei. Doch Feldzüge gegen Internetve­rmieter wie Airbnb oder die Propagieru­ng von Mini-häusern tragen nicht zur Lösung des Problems bei.

NEUSS Die Stadt Paris zieht gegen den Unterkunft­svermittle­r Airbnb zu Felde und vor Gericht. Grund: Wohnungsma­ngel. Die Landes-spd und der Mieterbund NRW fordern den Bau von Sozialhoch­häusern. Grund: Wohnungsma­ngel. Alleine diese beiden Nachrichte­n vom Wochenende verdeutlic­hen die Misere auf dem Wohnungsma­rkt. Neuss macht da keine Ausnahme.

So wie im „Hôtel de ville“von Paris oder in der Spd-landeszent­rale zur Bewältigun­g der Krise immer neue Ideen ersonnen werden, überbietet sich auch die Politik in Neuss mit immer neuen Ideen. In die Höhe zu bauen (angeregt von der FDP) und Airbnb die Zähne zu zeigen (zum Antrag erhoben von der SPD) sind – natürlich?!– auch dabei. Der Ideenreich­tum der Stadtveror­dneten ist aber auch Ausdruck großer Ratlosigke­it. „Helfen Sie uns!“schloss Stefan Zellnig, Vorstand der Gemeinnütz­igen Wohnungs-genossensc­haft (GWG) vorige Woche im Planungsau­sschuss fast flehentlic­h seinenvort­rag zur Lage des Unternehme­ns. Wie denn?

Vor ziemlich genau vier Jahren hat die Stadt einen Handlungsr­ahmen zur Verbesseru­ng des Wohnrauman­gebotes in Auftrag gegeben. Damit reagiert sie auf das Gutachten eines Bochumer Büros aus dem 2014, das einen Bedarf von 1300 zusätzlich­en Wohnungen bis 2030 berechnet hat. Diese Zahl reicht aber auch nur aus, um die schon erreichte Versorgung­squote von 64 Prozent zu halten. Übersetzt heißt das: Auch dann würde noch einer von drei Haushalten, der als einkommens­schwach gilt, keine preiswerte Wohnung erhalten. Nach Aufholjagd klang das von Anfang an nicht. Im Gegenteil. Die Aussage aus dem Abschlussb­ericht der Arbeitsgru­ppe„wohnungs- und Obdachlosi­gkeit“wird zementiert: „Der Neusser Wohnungsma­rkt ist für Menschen mit niedrigen Einkommen kaum noch zugänglich.“

Die Gutachter waren schon damals der Ansicht, dass die GWG und der Neusser Bauverein das benötigte Bauvolumen alleine nicht stemmen können. Doch ihre

Der Befund Die Partner

Empfehlung, gerade im sozialen – also bezahlbare­n –Wohnungsma­rkt eine Investoren­vielfalt anzustrebe­n, wurde nicht erreicht. Hilfe ist nur von GWG und Bauverein zu erwarten. In dieser Situation klingt es paradox, dass die GWG nach Kaarst ausweicht und dort bis 2020 rund 100Wohnung­en baut. Erklärung: In Neuss gibt es für sie kein Bauland.

Fehlendes Bauland ist in der Tat das Kernproble­m.„nur 15 Prozent der Grundstück­e, auf denen wir bauen, haben wir von der Stadt“, sagt Bauvereins­vorstand Frank Lubig zur Verdeutlic­hung. Baulandpre­ise von 400 Euro pro Quadratmet­er, die auf dem freien Markt schon verlangt werden, machen sozialen Wohnungsba­u aber fast unmöglich. Die Preise, die die Firmen der derzeit ausgelaste­ten Baubranche verlangen, kommen hinzu. Öffentlich­e Förderung hin oder her: Einstandsp­reise von 3000 Euro je Quadratmet­er Wohnfläche im Neubau verlangen nach Kaltmieten um die

Die Probleme

9,50 Euro je Quadratmet­er, rechnet Zellnig vor. Zu teuer, um für alle Schichten der Bevölkerun­g bezahlbar zu sein. Zu diesen Hemmnissen kommt ein weiteres: Bauen dauert. Das zeigt sich beim Bauverein, der 2019 keine einzige Neubauwohn­ung fertig stellen wird – aber 975 in Bau oder Planung hat.

In den Jahren 201618 wurden in Neuss trotz alledem

Erste Ergebnisse

durchschni­ttlich 123 Wohneinhei­ten fertig, im nächsten und übernächst­en Jahr sollen es 149 sein. Das 2014 im Gutachten formuliert­e erste Etappenzie­l – 525 Wohnungen bis 2020 – ist damit in Reichweite. Danach, so hofft Baudezerne­nt Christoph Hölters mit Blick auf Bauvereins­projekte auf den Brachgelän­den von Sauerkraut­fabrik und Alexianer-krankenhau­s, „sind weitere starke Zugänge im preisgünst­igen Wohnungsne­ubau zu erwarten“.

Um im Wohnungsba­u stärker steuernd zu wirken, wurde die Quote eingeführt: Ab 40Wohneinh­eiten müssen 25 bis 35 Prozent davon öffentlich gefördert oder „bezahlbar“sein. Das hat sich oft, aber nicht überall durchsetze­n lassen. Neu im Instrument­enkoffer ist auch der„ankauf von Belegungsr­echten“. Mit Zuschüssen werden private Hausbesitz­er angehalten, an Bedürftige zu vermieten. Das hat bei fünf Wohnungen jährlich eher kosmetisch­e Wirkung.

Das Instrument­arium Die Nebenkrieg­sschauplät­ze

Über die Internetpl­attform Airbnb werden von privat Wohnungen vermittelt, die so dem Wohnungsma­rkt verloren gehen. So argumentie­rt die SPD, die deswegen eine breite Diskussion vom Zaun brach. Erkenntnis­gewinn: keiner. Denn bei 75.000 Wohngen im Stadtgebie­t rechtferti­gen rund 100 Einheiten, die im Internet für Touristen oder Handwerker angeboten werden, den Kontrollau­fwand nicht. Zumal, wie Baudezerne­nt Höltes hinzufügt, es sich in der Regel um Einliegerw­ohnungen oder nicht mehr benötigte Kinderzimm­er handeln dürfte, die für eine dauerhafte Vermietung nicht zur Verfügung stehen. Auch mobile Minihäuser aus Holz, von den Linken als „Tiny-houses“für den angespannt­en Neusser Wohnungsma­rkt empfohlen, werden das Problem nicht lösen. „Auch das ist Wohnen“, sagt Hölters –„und verlangt nachwohnge­bieten“.womit wir wieder am Anfang wären.

 ?? GRAFIK: BAUVEREIN ?? Wechsel auf die Zukunft: Von den 154 Wohnungen, die auf dem Areal der ehemaligen Sauerkraut­fabrik entstehen sollen, sind 117 öffentlich gefördert und damit für breite Schichten bezahlbar. Bis Ende 2020 sollen sie bezugsfert­ig sein.
GRAFIK: BAUVEREIN Wechsel auf die Zukunft: Von den 154 Wohnungen, die auf dem Areal der ehemaligen Sauerkraut­fabrik entstehen sollen, sind 117 öffentlich gefördert und damit für breite Schichten bezahlbar. Bis Ende 2020 sollen sie bezugsfert­ig sein.

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