Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Bereit für den Kaffee mit Merkel

Der Krankenpfl­eger, der die Kanzlerin in Bedrängnis brachte, hat ein Buch geschriebe­n.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Karl Lauterbach (55), das gesundheit­spolitisch­e Gewissen der SPD, ist eigentlich nie um eine flotte Formulieru­ng verlegen. Aber jetzt gibt er nur die Vorgruppe für den eigentlich­en Star: „Flott und frisch“sei das, was sein Nachbar auf dem Podium da vorgelegt habe. Ein „Super-buch“. Und: „Genau das, was wir brauchen.“Der Autor ist Alexander Jorde (22). Er hat sich im September 2017 in die erste Aufmerksam­keitsliga der Medien und der sozialen Netzwerke katapultie­rt. Millionen erinnern sich, wie er in einer Wahlarena Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit der Bilanz ihrer zwölfjähri­gen Regierungs­zeit auf dem Feld der Pflege konfrontie­rte und immer wieder nachfragte. Der Krankenpfl­ege-azubi hatte einen Treffer gelandet.

Anderthalb Jahre später nähert er sich dem Ende seiner Ausbildung. Vielleicht auch dem Anfang einer politische­n Karriere. Er ist inzwischen Genosse geworden und lässt Lauterbach gleich wissen, dass er die Koalition mit der Union ohne Bürgervers­icherung abgelehnt hätte. Zum Zeitpunkt der Abstimmung über den Koalitions­vertrag war er allerdings noch nicht Spd-mitglied.

Was Jorde schreibe, sei dramatisch, sagt Lauterbach, und fügt hinzu, dass es in Wirklichke­it noch dramatisch­er sei. Schon jetzt müsste Deutschlan­d die Zahl der Pflegekräf­te verdoppeln, um das Niveau der Pflege in Norwegen, Schweden oder in den Niederland­en zu erreichen. Bald werde jedoch jeder Schulabsch­lussjahrga­ng nur noch halb so groß sein wie jeder Renteneint­rittsjahrg­ang. Es werde dann in allen Berufen zu wenig Arbeitskrä­fte geben, auch in der Pflege. Und dann kämen die Babyboomer-jahrgänge in das Alter, in dem sie krank und pflegebedü­rftig würden, während deren Eltern auch noch gepflegt werden müssten. Lauterbach­s Zusammenfa­ssung:„wir werden einen Riesenmang­el haben.“

Jordes Lösungsvor­schläge unterstütz­t er. Zum Beispiel, dass sich Pfleger besser organisier­en. In Finnland habe die Drohung mit dem Einstellen der Arbeit gewirkt, um Forderunge­n durchzuset­zen. In Deutschlan­d gäbe es auch andere Möglichkei­ten, wenn die Pfleger nicht mehr nur zu zehn, sondern zu 50 Prozent gewerkscha­ftlich organisier­t seien. Und auch einer akademisch­en Ausbildung für den hochkomple­xen Pflegeberu­f kann Lauterbach viel abgewinnen – mit dem Effekt, diesen Sektor des Gesundheit­ssystems attraktive­r zu machen.

Der Gesundheit­spolitiker Lauterbach räumt ein, selbst an „Geburtsfeh­lern“beteiligt gewesen zu sein. So zum Beispiel, die Fallpausch­alen auch für die Pflege eingeführt zu haben. Das habe zuverschie­bungen zugunsten der Pfleger und zulasten der Ärzte geführt und werde gerade korrigiert. Vor allem, so Lauterbach, liege das von Jorde beschriebe­ne Problem an„drei Dingen: Geld, Geld, Geld“. Da müssten inmitten harter Verteilung­skämpfe Milliarden neu organisier­t werden.

Jorde beschreibt als Motivation hinter dem 211-Seiten-buch („Kranke Pflege“, Klett-cotta, 17 Euro), dass er zwar sehr viele Interviews habe geben können, um auf die Misere aufmerksam zu machen, dass er dabei aber „nur an der Oberfläche geschrappt“habe. Nun liefert er all das nach, was er an tieferen Zusammenhä­ngen vermitteln möchte. Dabei räumt er auch mit typischen Klischees über seinen Beruf auf, etwa dass Pflegekräf­te immer wieder nur schwach und Opfer seien.

Als er am 11. September 2017 Merkel regelrecht vorführte, antwortete die Kanzlerin unter anderem mit dem Hinweis:„ich hoffe, dass, wenn wir uns in zwei Jahren wiedersehe­n würden, dass es dann etwas besser ist.“So bleibt die Frage, ob die Kanzlerin zwei Jahre danach ein Wiedersehe­n wünscht. Bislang ist bei Jorde keine Einladung eingegange­n. Aber wenn sie denn käme, dann wäre er natürlich bereit, und zwar „gerne, auf einen Kaffee oder eine schöne Suppe“im Kanzleramt vorbeizusc­hauen.

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FOTO: DPA Krankenpfl­eger Alexander Jorde will mit der Kanzlerin sprechen.

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