Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Heimat ist, was Halt gibt

Der alte Begriff der Heimat ist viel zu wertvoll, als dass man ihn Deutschtüm­lern und Rechtsradi­kalen überlassen sollte.

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Wir müssen wieder über Heimat reden. Weil man die Heimat nicht denen überlassen darf, die damit Schindlude­r treiben. Heimat ist kein populistis­ch-extremes Wort. Es ist ein vertrautes Wort, es gehört zu den schönsten Wörter der deutschen Sprache. Es ist zart und kraftvoll. Es scheint in die Kindheit, es weckt Erinnerung­en, es steht für Sehnsüchte. Kann man mit diesemwort Politik machen? Man kann. Deshalb war das Wort jahrzehnte­lang suspekt. Heimat ist in Deutschlan­d so verklärt und verkitscht worden, dass aus einemwort der Geborgenhe­it ein Wort der Verlogenhe­it wurde. Und es ist missbrauch­t worden; eswurde verarbeite­t zum Duft- und Lockstoff der Deutschtüm­ler. Aus einem der deutschest­en der deutschen Wörter wurde, wohl gerade deswegen, ein ungutes, eines, das in den ranzigen und braunen Ecken der Gesellscha­ft zu Hause war. Das war ein Fehler; diesen Fehler hat die demokratis­che Politik erkannt.

In Nordrhein-westfalen, in Bayern und im Bund wurde ein Heimatmini­sterium eingericht­et. Man muss sich darüber nicht gleich wieder lustig machen. Es ist ja gewiss richtig, dass man das Wort Heimat nicht den Rechtsradi­kalen überlassen darf; der Gehalt des Wortes ist zu wertvoll. Es darf aber auch nicht sein, dass man das Wort nur als Etikett auf eine Politik klebt, die man eh schon immer gemacht hat: Den Grünen wird sie dann einfach zum Synonym für Umweltschu­tz und Energiewen­de. Den Sozialdemo­kraten wird sie ein anderer Ausdruck für Solidaritä­t. Die CDU klebt das Wort Heimat auf ihren Konservati­vismus. Und die AFD erklärt ihre Anti-flüchtling­spolitik zur Heimatpoli­tik. Es wäre wenig sinnhaft, wenn das Reden von Heimat nur das alte Geschwurbe­l über Identität ablösen würde.

Was ist Heimat? Heimat ist mehr als eine Postleitza­hl, mehr als eine Adresse irgendwo. Heimat ist das, was Halt gibt. Eine Politik, die Halt gibt, ist eine Politik gegen den Extremismu­s. Die Menschen brauchen Wur- zeln, Wurzeln geben Halt.

Was ist Heimat? Unlängst habe ich die Werke des böhmischen Autors Johannes Urzidil, ein Zeitgenoss­e von Kafka, Brod und Werfel, der 1939 vor Hitler erst nach Großbritan­nien und dann in die USA, nach New York, emigriert ist. Statt dort seiner verlorenen böhmischen Heimat nachzutrau­ern, setzte er ihr ein Denkmal: Inmitten der Wolkenkrat­zer machte er seine Streifzüge durch seinesvate­rs Apothekenk­ästchen und durch die böhmische Geschichte. Er schrieb über Böhmen als „Die verlorene Geliebte der europäisch­en Geschichte“. Er baute seine böhmischen Dörfer in New York wieder auf, nicht als Heimat- oder Heimwehidy­llen, sondern alsvisione­n einer unverlierb­aren Geschichte. „Meine Heimat ist“, so schrieb der Dichter, „was ich schreibe“. „Meine Heimat ist, was ich schreibe“: Das ist für einen Journalist­en wie mich auch kein schlechtes Motto. Bei mir ist es eher so, dass Heimat das ist, worüber ich schreibe. Ich schreibe als politische­r Journalist über die Demokratie, über den Sozialstaa­t und über Europa – und ich glaube, dass die Konkretisi­erung dieser abstrakten Begriffe viel mit Heimat zu tun hat.

Gibt es die Heimat in der Demokratie? Wenn Demokratie gelingt, wird sie zur Heimat für die Menschen, die in dieser Demokratie ihre Zukunft miteinande­r gestalten. Es gibt ja Leute, die meinen, Demokratie sei nicht sehr viel mehr als eine Kiste: 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit. Oben hat die Demokratie einen Deckel mit Schlitz. In der Tat: Alle paar Jahre kommen viele Leute zu diesen Kisten. Die Kiste heißt „Urne“, also genauso wie das Gefäß auf dem Friedhof, in dem die Asche von Verstorben­en aufbewahrt wird. Wahlurne – das ist ja ein merkwürdig­er Name, denn die Demokratie wird ja an diesen Wahltagen nicht verbrannt und beerdigt; im Gegenteil: Sie wird geboren, immer wieder neu, alle paar Jahre.wahltage sind die Geburtstag­e der Demokratie. Aber das Leben besteht ja nicht nur aus Geburtstag­en.

Demokratie ist daher noch sehr viel mehr als einewahl. Demokratie findet an jedem Tag statt, sie muss an jedem Tag stattfinde­n, nicht nur alle paar Jahre, an einem der Ur- nen-tage. Demokratie ist ein Prinzip, ein Grundprinz­ip. Sie ist ein gesellscha­ftliches Betriebssy­stem.

Demokratie ist das erfolgreic­hste, beste und friedlichs­te Betriebssy­stem, das es für ein Land gibt. Ein Betriebssy­stem, bei dem alle, die in einem Land wohnen, etwas zu sagen haben – auch diejenigen, die nichts sagen können, weil sie eine Behinderun­g haben, die ihnen das Sprechen verwehrt. Demokratie heißt: Jeder hat eine Stimme, keiner ist mehr wert als der andere, alle sollen mitbestimm­en, was zu geschehen hat. Junge und Alte, Altbürger und Neubürger, Menschen mit und ohne Behinderun­g.

Und Europa? Wenn Europa nicht mehr nur eine Union für die Wirtschaft wäre, sondern eine Union für die Menschen, dann könnte Europa zur Heimat werden – trotz Brexit und neuem alten Nationalis­mus; oder gerade deswegen, weil sich eine junge Generation ihre europäisch­e Zukunft nicht von nationalis­tischen alten Säcken wegnehmen lassen wird.

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