Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Er vermutete, dass der Raum bereits abgehört wurde, und schob Maclean einen Zettel zu. Sie sollten sich im Reform Club zum Mittagessen treffen. Niemand würde sie dort abhören können. Donald Maclean nickte nur.
Er war zu diesem Zeitpunkt bereits in einem ausgesprochen schlechten Zustand und hochnervös.
Für einen Außenstehenden wäre diese Nervosität kaum verständlich gewesen. Maclean hatte schließlich alles, was man sich wünschen konnte: Mit seinen siebenunddreißig Jahren konnte er auf eine brillante Laufbahn zurückblicken. Seine Arbeit in Amerika, die ihn jetzt einholen würde, galt bis zu diesem Zeitpunkt als außergewöhnlich erfolgreich. Von 1944 bis 1948 genoss er als First Secretary an der britischen Botschaft in Washington das volle Vertrauen seiner Vorgesetzten. Gemeinsam mit seiner Frau Melinda konnte er große Erfolge in der Washingtoner und New Yorker Gesellschaft vorweisen. In New York unterhielten die Macleans damals eine Art Zweitwohnsitz, angeblich, weil Melinda während ihrer ersten Schwangerschaft in der Nähe ihrer amerikanischen Mutter leben wollte. Tatsächlich war der Grund ein anderer. Maclean besuchte Melinda zu jener Zeit jedes Wochenende in New York. Nicht unbedingt, weil er ein rührend besorgter Ehemann war (die Ehe mit Melinda war absolut frei von Sentimentalitäten), sondern weil er hier unbeobachtet seinen neuen Führungsoffizier Gorsky treffen konnte. Inwashington war es zu gefährlich, Material zu übergeben, in New York sehr viel einfacher.
1944 hatte es viele Gründe für Donald Maclean gegeben, Gors- ky häufig zu treffen. Maclean hatte jede Menge hochbrisantes Material über den Bau der Atombombe weiterzureichen. Moskau führte bereits drei Leute in Los Alamos, die dieses Projekt auskundschafteten – Klaus Fuchs, Alan Nunn May und Theodore Hall. Diese drei Physiker besorgten die wissenschaftlichen Daten des Projekts, aber Donald Maclean war eine weitere wichtige Quelle, die über die Planungssitzungen in Washington berichten konnte. Es waren diese Berichte, die er als Homer von New York aus weitergegeben hatte und die jetzt, sechs Jahre später, Stück für Stück im VENONa-projekt entschlüsselt wurden.
In den Jahren, in denen Maclean in New York und Washington arbeitete, hatte niemand etwas von seinem Geheimnisverrat geahnt. Ganz im Gegenteil, nach seiner „erfolgreichen Zeit“in Amerika war Maclean vom Foreign Office mit einer weiteren guten Stelle belohnt worden. 1948 bekam er dievertretung in Kairo, eine besondere Ehre für einen noch relativ jungen Mann. Doch während sein britischer Arbeitgeber ihn unablässig förderte, schienen seine sowjetischen Auftraggeber ihn zu vernachlässigen. Gleich zu Anfang kam es zu Problemen zwischen Maclean und seinem neuen sowjetischen Führungsoffizier in Ägypten. Maclean hielt den Mann für unfähig und weigerte sich, mit ihm weiter zusammenzuarbeiten. Er spionierte zu dem Zeitpunkt seit fünfzehn Jahren für die Sowjetunion, in ständiger Angst vor Enttarnung. Mittlerweile war er psychisch am Ende. Von Kairo aus schrieb er einen Brief an die Moskauer Zentrale und bat, aussteigen zu dürfen. Er wolle mit seiner Familie in die Sowjetunion fliehen und alles hinter sich lassen. Der Brief wurde von der Kgb-zentrale nicht beantwortet. Die Konsequenz war, dass Maclean hemmungslos zu trinken begann. Und genau wie Burgess fing auch Maclean an, im betrunkenen Zustand Skandale zu verursachen. Eine seiner Sauftouren verlief besonders spektakulär. Er war mit dem britischen Journalisten Philip Toynbee im Nachtleben von Kairo unterwegs, als die beiden spontan beschlossen, diewohnung einer Botschaftssekretärin zu zertrümmern. Warum sie sich ausgerechnet diese Sekretärin und ihre Wohnung ausgesucht hatten, konnte im Nachhinein nicht vollständig geklärt werden. Die Sekretärin arbeitete für den amerikanischen Gesandten in Kairo, und da Maclean – ähnlich wie Burgess – sowohl Amerikanern als auch Frauen gegenüber eine gespaltene Beziehung hatte, war diese Kombination für ihn wahrscheinlich unwiderstehlich. Gemeinsam mit Toynbee zerlegte er zuerst die Möbel der Sekretärin und machte sich dann an ihre Schränke. Sie zerrissen ihre Kleider und spülten sie die Toilette hinunter. Die Sekretärin konnte entkommen und alarmierte die Polizei. Maclean und Toynbee wurden vorübergehend festgenommen.
Das Foreign Office zeigte überraschend viel Verständnis für die Tat. Auch die Reaktion von Macleans Ehefrau schien ausgesprochen milde. Sie stellte sich hinter ihren Mann und argumentierte überzeugend, dass der arme Donald einfach überarbeitet sei und dringend Ruhe brauche. Er wurde aus Kairo abgezogen, und man schickte ihn zu einem Psychiater in London. Die Therapie schlug erwartungsgemäß nicht an. Natürlich war ein Erfolg schon allein dadurch unmöglich, weil Maclean nicht über sein Doppelleben sprechen konnte. Stattdessen redete er also stellvertretend bei den Sitzungen über eine andere Form von Doppelleben, das er führte, seine Bisexualität. Diese wurde nun vom Therapeuten zur Haupterklärung aller Probleme gemacht.
Melinda wusste seit ihrer Hochzeit alles über Donalds Arbeit als Spion, aber sie war verständlicherweise nur bereit, seine Bisexualität zu diskutieren. In einem Brief an ihre Schwester schilderte sie, dass Donald immer noch sehr„desorientiert und vage“sei, was seine sexuelle Orientierung betreffe, dass aber seine homosexuellen Sehnsüchte nur zum Vorschein kämen, wenn er getrunken habe. Dann würde er auch eine besonders starke Abneigung gegen Frauen empfinden (was erkläre, warum er die Wohnung der Sekretärin zertrümmert habe). In Wahrheit war seine Bisexualität natürlich Macleans geringste Sorge.
Sein sehr viel akuteres Problem bestand darin, dass er die Enttarnung als Spion fürchtete und der KGB lange nichts zu unternehmen schien, um ihn zu retten. Seine britischen Arbeitgeber verhielten sich hingegen rührend fürsorglich. Nachdem seine Sitzungen beim Psychiater als Erfolg bewertet wurden, machte das Foreign Office seinen Stardiplomaten Maclean 1950 zum Chef der amerikanischen Abteilung. Mit siebenunddreißig Jahren diese Stelle innezuhaben war ein großer Erfolg, besonders wenn man bedenkt, dass er nebenher noch viel Zeit in seine sowjetische „Nebentätigkeit“investieren musste.