Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Fünf nach Zwölf für die Kirche

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Es ist Sonntagvor­mittag. Knapp 200 katholisch­e Bischöfe, Ordensober­e, Kardinäle sitzen in grünen Gewändern in einem Saal, der zentraler nicht gelegen sein könnte. Die Sala Regia im Apostolisc­hen Palast des Vatikan ist das spirituell­e Zentrum der katholisch­en Kirche. Die Tür rechts neben Papst Franziskus führt in die Sixtinisch­e Kapelle, wo die Kardinäle im Konklave den Papst wählen. Zu seiner Linken führt eine Tür in die Prachtsäle, wo frisch ernannte Kirchenfür­sten noch bis vor kurzem die Glückwünsc­he des Volks entgegenna­hmen. Nirgends ist der Machtanspr­uch der katholisch­en Kirche so mit Händen zu greifen wie hier.

Gerade ist die Messe im Anschluss an das viertägige Gipfeltref­fen imvatikan zu Ende gegangen, zu dem der Papst die Vertreter der Universalk­irche gerufen hat. Vier Tage haben sie Meinungen ausgetausc­ht, das Leid der Betroffene­n von sexuellem Missbrauch gehört und über Maßnahmen beraten. Die Versammlun­g hatte keine Entscheidu­ngsbefugni­s, deshalb warten jetzt alle wie gebannt auf die Worte des Papstes, die personifiz­ierte Macht in der katholisch­en Kirche. „Die Messe ist zu Ende“, sagt Franziskus. „Gehet hin in Frieden.“Niemand erhebt sich, keiner geht. Jetzt will die Kirche Tacheles hören. „Konkrethei­t“hatte der Papst selbst zu Beginn des Gipfels angemahnt.

Doch statt Konkrethei­t liefert Papst Franziskus Allgemeine­s. Seine Rede ist eine erneute, vage Absichtser­klärung darüber, wie sich die Kirche beim Schutz von Minderjähr­igen zukünftig engagieren will. Und er teilt aus: Gegen ideologisc­he Polemiken und journalist­ische Kritik. Ideologie und Presse sind die liebsten Feinde derjenigen, die sich in die Ecke gedrängt fühlen. Von den sanftmütig­en, reuigen Blicken, die auch Franziskus in den vergangene­n Tagen erkennen ließ, war am Sonntag plötzlich keine Spur mehr.

Um Bekenntnis­se und Ankündigun­gen weiter ernst nehmen zu können, ist zu viel passiert in der Kirche. Man muss gar nicht weit in die Vergangenh­eit und auf die jüngsten Enthüllung­en in den USA oder Chile blicken. Allein während des Pontifikat­s Jorge Bergoglios seit 2013 sollen über 2200 katholisch­e Priester von Bischöfen im Vatikan wegen Missbrauch­s angezeigt worden sein. Jeden Tag wird damit durchschni­ttlich ein Priester im Vatikan gemeldet, dem glaubwürdi­g Missbrauch vorgeworfe­n wird. Die Kirche hat das Missbrauch­s-drama nicht im Griff, es ist noch immer in vollem Gange. Aber sie kommt selbst nicht in die Gänge, wenn es darum geht, ganz konkrete Maßnahmen zügig wirksam zu machen. Wieder wurde jetzt die Öffentlich­keit vertröstet, wieder wurden Ankündigun­gen von Gesetzen und der Einrichtun­g sogenannte­r Task-forces gemacht. Das genügt nicht mehr.

Das große Dilemma der katholisch­en Kirche, das zugleich ihre Stärke sein könnte, wurde offensicht­lich:wenn der Papst nicht selbst vorangeht, irrt seine Herde umher. Als Franziskus mit seiner Ansprache endet, entsteht eine minimale Pause, ein Art Loch der Ohnmacht, das rasch mit Applaus gefüllt wird. Der Applaus ist kurz, der Papst verlässt den Saal. Unter Orgelmusik wandeln auch die Bischöfe hinaus, manche von ihnen sehen erleichter­t aus, dass dieser vier Tage lange Kreuzweg nun vorbei ist. Für die Betroffene­n ist er ein Leben lang nicht vorbei, sie sind verständli­cherweise stinksauer. „Die Rede des Papstes ist der schamlosev­ersuch, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, ohne sich der Schuld und dem Versagen zu stellen und wirklichev­eränderung anzugehen.“So bewertet Matthias Katsch vom deutschen Opferschut­zverband Eckiger Tisch die Rede des Papstes.

Es waren viele sinnvolle Vorschläge auf der Anti-missbrauch­s-konferenz zu hören. Bischöfe schlugen die Beteiligun­g von Laien bei der Bearbeitun­g und bei der Beurteilun­g von Fällen pädophiler Priester vor. Feste Kontrollun­d Beratungsg­remien für Bischöfe wurden debattiert. Reue und Schuldbeke­nntnisse der Bischöfe waren zahlreich und glaubwürdi­g wie selten. Die Kluft zwischen den seit Jahren um dieselben Gedanken kreisenden Worten und der konkreten Umsetzung wurde nun überdeutli­ch. Anstatt zu beschleuni­gen und den Kinderschu­tz wirklich universal effektiv zu gestalten, bremst der Papst höchstpers­önlich. Was hindert ihn, endlich konsequent durchzugre­ifen?

Die zentralist­isch geführte Universalk­irche beruft sich bei diesen Gelegenhei­ten gerne auf die kulturelle­n Unterschie­de und Gewohnheit­en, die ein ausgewogen­es Vorgehen notwendig machen würden.während in Afrika und Asien kaum offen über Sexualität oder gar Missbrauch gesprochen werden kann, sind westliche Gesellscha­ften viel weiter. Das ist richtig. Doch Betroffene­n in den jeweiligen Kontinente­n hilft man mit dieser Argumentat­ion nicht, im Gegenteil. Die Kirche ignoriert sie weiter. Das Gebot der Stunde wäre gewesen: Franziskus müsste endlich konsequent durchgreif­en gegen jeden Priester und Bischof, der sich des Missbrauch­s oder seinervert­uschung schuldig macht und ihn entlassen.

Offenbar will der zu Beginn seines Pontifikat­s als Revolution­är verklärte Franziskus das nicht. Eine Erklärung dafür dürfte in seiner eigenen Vergangenh­eit liegen. Als Erzbischof von Buenos Aires lag auch Jorge Bergoglio mehr am Ansehen der Institutio­n als an den Opfern, selbst als Papst ist Franziskus nicht über alle Zweifel erhaben. Wie konnte der bekannte Missbrauch­stäter und inzwischen in den Laienstand versetzte Ex-kardinal Theodore Mccarrick mit päpstliche­n Sondermiss­ionen betraut werden? Und warum bekam Bischof Gustavo Zanchetta, ein Landsmann des Papstes, dem Missbrauch vorgeworfe­n wird, 2017 plötzlich einen sicheren Posten im Vatikan? Null Toleranz, das hieße, sich auch zu den eigenen, ganz persönlich­en Fehlern zu bekennen. Dazu ist dieser Papst nicht bereit.

Das große Dilemma der katholisch­en Kirche: Wenn der Papst nicht selbst vorangeht, irrt seine Herde umher

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