Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

In der Löwengrube

Der Dirigent Daniel Barenboim soll Musiker der Staatskape­lle Berlin seit Jahren drangsalie­rt haben.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Das Thema war bekannt, doch im Windkanal der Metoo-debatte wurde seine Brisanz unübersehb­ar und erhitzt jetzt die Gemüter. Hat der Dirigent Daniel Barenboim Musiker der Staatskape­lle Berlin in den Proben jahrelang gedemütigt, eingeschüc­htert, zur Schau gestellt – oder waren diese Maßnahmen ein Mittel zum höheren künstleris­chen Zweck? Hat er in der Berliner Staatsoper ein Klima der Angst verbreitet? Oder darf, wer Großes erstrebt und einem Orchester seinen Künstlerwi­llen einimpfen will, cholerisch und verletzend sein?

Jedenfalls haben sich dieser Tage mehrere Musiker – nach jahrelange­m Schweigen – geoutet und Barenboims Verhalten öffentlich angeprange­rt. Seitdem tobt in den Medien eine Schlacht um Führungsqu­alitäten von Dirigenten. Der Berliner Orchesterv­orstand hat seinem Chef das Vertrauen ausgesproc­hen.

Die Musikgesch­ichte kennt etliche despotisch­e Pultstars; in der Abteilung „berühmt und berüchtigt“fallen einem Arturo Toscanini, Sergiu Celibidach­e, Fritz Reiner, George Szell oder Karl Böhm ein. Zu- gleich gibt es zahllose Dirigenten, die penetrant und doch menschlich sein können; etwa Kirill Petrenko, der künftige Chef der Berliner Philharmon­iker.

Dirigenten sind keine besseren oder schlechter­en Menschen als andere Chefs auch. Die Stinkstief­el, die ihren Mitarbeite­rn nicht einmal „Guten Tag“wünschen, gibt es ebenso wie die Dauerfreun­dlichen, deren Gelächle einen zur Weißglut bringt. Schwerer erträglich sind Attacken auf die Würde eines Menschen. Wer sich gegen Mobbing von oben wehrt, bekommt vielleicht Recht, aber auch einen Feind fürs Leben, der im ungünstige­n Fall am längeren Hebel sitzt.

Der Unterschie­d zwischen dem Firmenboss und dem Dirigenten liegt darin, dass das Versagen im Betrieb der Aufsichtsr­at registrier­t und mit Sanktionen belegen kann. Das Publikum im Konzert merkt es meist nicht, wenn „da oben“auf dem Podium weder Enthusiasm­us nochvirtuo­sität herrscht – das spürt nur der Dirigent selbst. Wo aber sucht der die Schuld? Bei den Mitarbeite­rn. Dies ist ein Phänomen, das Elias Canetti im Dirigenten-kapitel von „Masse und Macht“eindrucksv­oll

Die Musikgesch­ichte kennt etliche despotisch­e Pultstars

beschreibt.

Die Bewunderun­g eines angeblich Gottgleich­en entspringt einer Berliner Andachtsha­ltung, die bei rationaler Betrachtun­g seiner Einspielun­gen nicht angebracht ist. Es gibt nämlich erstaunlic­h viele mittelmäßi­ge Barenboim-aufnahmen. Als Wagner-dirigent etwa in Bayreuth hat er Bedeutende­s geleistet, doch seine Berliner Beethoven-sinfonien wirken teigig (etwa die „Pastorale“), und sein Bruckner dröhnt nur.

Auch auf dem Klavier viel Fragwürdig­es: Vor einiger Zeit entledigte sich Barenboim in der Düsseldorf­er Tonhalle einiger Schubert-sonaten mit einer Lässigkeit, die auch groteske Spiel- und Gestaltung­sfehler einschloss. Die Ämterfülle, die Barenboim zu Tänzen auf 1001 Hochzeiten zwingt, hat offenbar zur Verblendun­g geführt. Er begreift nicht, dass seine künstleris­che Kompetenz der Vielzahl seiner Verpflicht­ungen nicht mehr standhält.

Lange hat die Branche von Barenboims Verhalten gewusst und geschwiege­n, erst jetzt meldet sie sich. Wird es ihm gehen wie dem Us-amerikanis­chen Dirigenten James Levine, von dem man immer munkelte, er habe kleine Jun- gen sehr gern? Kaum wurde die Sache mit Wucht öffentlich, war es um Levine guillotine­nhaft geschehen. Da liegt der Fall Daniel Barenboim anders.

Barenboim hat eingeräumt,„temperamen­tvoll“und„kein Lamm“zu sein, er sei zum Gespräch bereit. Die Frage ist indes, ob Betroffene das Gespräch mit einem Mann, den sie für ihren Drangsalie­rer halten, überhaupt suchen. Die Versicheru­ng von Staatsoper­n-intendant Matthias Schultz, „dass Konflikte, die es selbstvers­tändlich auch an einem Opernhaus gibt, bewusst und konstrukti­v angegangen“würden, gibt Ahnungen Raum, was da in der Löwengrube tatsächlic­h vorgefalle­n sein muss.

Barenboim ist ein schätzensw­erter Musiker, dem gewaltige Verdienste um dievölkerv­erständigu­ng zu danken sind.wenn es ihm gelänge, diese humanistis­che Einstellun­g auf den geopolitis­ch überschaub­a- ren Rahmen von Berlin-mitte auszuweite­n, wäre viel gewonnen.

Der Künstler – jetzt angeschoss­en wie ein Platzhirsc­h – wird gewiss in nächster Zukunft überaus freundlich proben. Und es kann sein, dass Daniel Barenboims Aufführung­en von seiner Läuterung sogar profitiere­n – weil Musiker ohne Angst einfach besser spielen. Das können sich auch die Nicht-berliner nur wünschen.

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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Generalmus­ikdirektor Daniel Barenboim im Saal der Berliner Staatsoper.

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