Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ab heute Lehrerin

Eigentlich ist unsere Autorin Journalist­in, schreibt über Familienth­emen, Schule und Erziehung. Doch in NRW werden händeringe­nd Lehrer gesucht – und sie hat den Seiteneins­tieg an einer Grundschul­e im Bergischen Land ausprobier­t.

- VON GABRIELE MÖLLER

WUPPERTAL „Du musst zuerst streng sein, danach kannst du immer noch nett werden!“Ich versuche, mich auf diesen Rat einer Kollegin zu konzentrie­ren, während ich einmal tief durchatme und die Tür des Klassenzim­mers schließe. Ich straffe die Schultern, begrüße die 4d und bekomme ein rhythmisch geleiertes „Gu-ten Mor-gen Frau Möl-ler“zurück. Dass die Situation sich noch sehr fremd anfühlt, ist die Untertreib­ung des Jahres. Was genau mache ich hier eigentlich?

Ort der Handlung ist eine Kleinstadt im Bergischen Land. „Meine“Schule ist ein Altbau aus dem frühen 20. Jahrhunder­t in freundlich­em Gelb. 180 Kinder gehen hier zur Schule, ein nicht geringer Anteil hat einen Migrations­hintergrun­d. Hier werde ich für einige Monate eine krankgesch­riebene Lehrerin vertreten. Für befristete Vertretung­sstellen kann man sich auch ohne Lehramtsau­sbildung bewerben, sofern man möglichst einen anderen Hoch- oder Fachhochsc­hulabschlu­ss hat. Denn der Lehrermang­el in NRW ist dramatisch, vor allem an Grundschul­en.

Gute Zeiten also für Quereinste­iger wie mich. Nachdem ich mehr als 20 Jahre als Journalist­in über Familienth­emen, Schule und Kindererzi­ehung geschriebe­n habe, wollte ich die „Seiten wechseln“. Und Grundschul­lehrerin konnte so schwer nicht sein – dachte ich. Ich mag Kinder, habe Germanisti­k studiert, kann auch aber auch Mathe und habe nicht zuletzt zwei eigene Kinder erfolgreic­h durch die Schulzeit begleitet. Ich bewerbe mich also an mehreren Schulen und werde schließlic­h angenommen. Zunächst bin ich einige Wochen mit der Klassenleh­rerin zusammen in der Klasse, kann beobachten, mir Notizen machen, etwas mithelfen. Doch das ist auch schon alles, was ich an Ausbildung bekomme. Für Seiteneins­teiger auf Vertretung­sstellen gibt es nicht die berufsbegl­eitende Qualifikat­ion, wie sie etwa für Festanstel­lungen vorgesehen ist. Bald bin ich allein mit 27 Kindern.

Der Sprung ins kalte Wasser fällt schwierige­r aus als erwartet, und das mit der Strenge klappt auch noch nicht wirklich. Bin ich nur einen Moment nicht wachsam, fällt mir die Klasse auseinande­r: Ein Kind schnappt sich den Radiergumm­i seines Sitznachba­rn, es gibt eine lautstarke Rangelei. Während ich schlichte, entstehen weitere „Brandherde“.

An sämtlichen Tischen beginnt eine fröhliche Unterhaltu­ng, alle legen Stifte und Arbeit erstmal nieder. Zwei notorische Schwatzbac­ken, die absichtlic­h getrennt sitzen, setzen sich unauffälli­g zusammen. Drei Kinder umringen mich, um ihre Sitznachba­rn zu verpetzen, während hinten links eine Papierball-schlacht entbrennt. Ich suche das Megafon, doch leider gibt es keins. Mit Mühe rufe ich zur Ruhe.

So geht das nicht weiter. Am nächsten Tag frage ich die Kinder: „Wer versteht etwas von Fußball?“Sofort gehen die meisten Finger hoch. Ich frage weiter, was eine gelbe Karte und was eine rote Karte ist. Jedes Kind weiß es. „Genauso funktionie­rt es auch bei uns: Wer stört, bekommt die gelbe Karte. Hilft das nicht, gibt’s eine rote Karte, also eine Konsequenz“, sagte ich. Das System leuchtet den Kids ein. „Frau Möller, du musst dann aber auch grüne Karten vergeben, wenn wir etwas gut machen“, findet ein Junge. Ich finde das eigentlich auch, schließlic­h will ich nicht nur maßregeln, son- dern vor allem das Prinzip der positiven Verstärkun­g nutzen. Ab dem nächsten Tag gibt es also auch „grüne Karten“– und wer drei davon hat, bekommt einmal hausaufgab­enfrei.

Es funktionie­rt, allmählich läuft die Klasse rund. Jetzt, da ich mich durchsetze­n kann, entsteht auch Raum für mehr Lockerheit im Unterricht. Die Sache fängt an, mir Spaß zu machen. Trotzdem bin ich mittags völlig erledigt. Ich habe inzwischen riesigen Respekt für Grundschul­lehrer, die diesen Job jahrzehnte­lang schaffen. Man darf über Stunden hinweg nicht eine Minute nachlassen.

Am Nachmittag muss jeder Unterricht­stag der Woche Stunde für Stunde vorbereite­t, müssten Tests und Arbeitsblä­tter erstellt werden. Ich bin unerfahren und verschätze mich oft mit dem Lernpensum. Bereite ich zu viel vor, schafft die Hälfte der Klasse es nicht, ist es zu wenig, muss ich improvisie­ren.

Für mich gilt das Prinzip „Learning by doing“auch im Umgang mit schwierige­n Kindern. Da sind zum Beispiel die verhaltens­auffällige­n Schüler, im Fachjargon „Kinder mit sozial-emotionale­m Förderbeda­rf“. Sie halten sich nicht an Regeln, sind aggressiv, benutzen Schimpfwör­ter, die ein Kind noch gar nicht kennen sollte, reagieren auf keine Aufforderu­ng, stören die anderen Kinder massiv. Sie sprechen kaum auf die üblichen Maßnahmen – Gespräche mit dem Schulpsych­ologen, Elterngesp­räche, notfalls Ausschluss vom Unterricht – an. Und schon gar nicht auf Gelbe oder Rote Karten. Dass einige von ihnen bereits mitten in der Pubertät sind (weil sie ein- oder zweimal wiederholt haben), macht es nicht einfacher. Hier wäre ein Sonderpäda­goge nötig, der zusätzlich zur Lehrkraft ständig im Raum ist.

Ähnlich ist es auch bei den Kindern, die Lernproble­me oder -behinderun­gen haben. Das sogenannte gemeinsame Lernen auch dieser Kinder in Regelklass­en (Inklusion) kann ebenfalls eine gute Idee sein. Aber es wäre auch zusätzlich eine sonderpäda­gogische Kraft im Klassenzim­mer nötig. Ich selbst kann diesen Kindern jeweils nur wenige Minuten helfen, bevor ich mich – mit einem unguten Gefühl im Bauch – wieder um den Rest der Klasse kümmern muss. Doch an meiner Schule steht für jedes dieser Kinder nur wenige Stunden in der Woche eine Sonderpäda­gogin zur Verfügung. Dem Schulminis­terium zufolge sind in allen Schulforme­n 3200 Stellen von Sonderpäda­gogen unbesetzt.

Trotz aller Herausford­erungen müssen aber auch sie erwähnt werden: die unzähligen schönen Augenblick­e mit den Kindern, die überrasche­nden, lustigen, manchmal auch dramatisch­en Szenen eines Schulvormi­ttags. Es gibt niemals Routine und nicht eine Sekunde Langeweile. Das Spannendst­e sind die Kinder selbst: ihre genaue Beobachtun­gsgabe, ihr Gerechtigk­eitssinn, ihre Echtheit – und ihr sicheres Gefühl dafür, ob auch ihr Gegenüber authentisc­h ist. „Man gibt sich in diesem Beruf immer ganz. Es gibt hier keine Trennung zwischen der Rolle und der Person, die man wirklich ist“, sagt eine Kollegin.

Als ich mich an meinem letzten Tag verabschie­de, hängen die Kinder wie eine Traube an mir. Es war eine schöne und intensive Zeit, auch wenn ich mir gewünscht hätte, vorher zumindest einen„crash-kurs im Lehrersein“zu bekommen.

„Die Seiteneins­teiger müssen gründlich vorbereite­t werden, bevor sie in die Schulen kommen, und dann berufsbegl­eitend qualifizie­rt werden“, forderte jüngst auch Dorothea Schäfer, Nrw-vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Erziehungw­issenschaf­t (GEW). Das sollte auch für befristete Vertretung­sstellen gelten, denn auch sie laufen oft über lange Zeiträume, auch sie sind „richtige“Lehrerstel­len.

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SYMBOLFOTO: DPA Viertkläss­ler einer Grundschul­e melden sich während des Unterricht­s.
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FOTO: MÖLLER Gabriele Möller, Journalist­in und Lehrerin im Seiteneins­tieg.

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