Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Welcher Vogel? Doch nicht Maclean?’ ,Ja’, antwortete er. ,Aber es ist da noch etwas Schlimmeres . . .’ Guy Burgess ist mit ihm gegangene. Meine Betroffenheit darüber war nicht gespielt.“
Philby wusste, was das für ihn bedeutete. Von diesem Moment an stand er unter Verdacht. Er würde Burgess seine Flucht nach Moskau nie verzeihen. Mit dieser Flucht begann Kim Philbys Niedergang.
Wera klappte ihren Laptop zu. Mit der Burgess-geschichte war sie ganz zufrieden. Vielleicht konnte David sie sich noch einmal ansehen undvorschläge machen, falls er zwischen seinem endlosen Rudertraining für so etwas endlich einmal Zeit fand. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie kompliziert ihre Beziehung geworden war.
Es war jetzt Mittagszeit, und sie hatte Hunger. Sie verließ den St. James‘s Park und ging an den Clubs vorbei wieder Richtung Piccadilly Circus. Auf der Regent Street kam sie an mehreren Schnellimbissen vorbei, die interessant aussahen. Sie studierte die Speisekarte am Eingang von ITSU. Das Sushi hier schien relativ preiswert zu sein, sie könnte sich eine der größeren Boxen leisten. Durch die
Glasscheiben sah sie, dass das Restaurant fast voll war. Und dann entdeckte sie an einem der hinteren Tische Polina. Zuerst war sie sich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich Polina war. Sie sah anders aus als in Cambridge, noch schöner, wenn so etwas überhaupt möglich war. Ihre Haare waren offen, und sie trug eine elegante dunkelblaue Bluse. Ihr gegenüber saßen eine Frau und ein Mann, von denenwera nur die Rücken sah. Beide wirkten wie auf dem Sprung, sie trugen noch ihre Regenmäntel, und die Frau hatte einen Hut auf, was in einem Schnellimbiss etwas ungewöhnlich aussah. War das Polinas Mutter, die zu Besuch gekommen war? Aber das konnte nicht sein, eine solche Reise würde sie sich bestimmt nicht leisten können. Und warum war Polina überhaupt hier und nicht in Cambridge? Es war ein Wochentag, musste sie nicht auf die Kinder aufpassen? Irgendetwas an der ganzen Situation kam Wera merkwürdig vor. Wie hatte Hunt es damals bei der ersten Supervision ausgedrückt? „So erkennt man Fälschungen aus einer Mischung aus langjähriger Erfahrung und Instinkt.“War Polina eine Fälschung? Wera wusste nicht, ob es daran lag, dass sie gerade die Geschichte von Maclean und Burgess recherchierte, aber plötzlich hatte sie das Gefühl, dass alle um sie herum nur Theater spielten. Jeder hatte doch seine Geheimnisse, warum nicht auch Polina?
Wera wollte auf keinen Fall von Polina gesehen werden. Sie drehte sich um und rannte zur U-bahn-station Piccadilly Circus. 23. April 2015 Jamie‘s Italian Restaurant Cambridge
„Sie war es eindeutig, Jasper. Ich hab sie gesehen.“
Wera und Jasper saßen in Jamie Olivers Restaurant im Zentrum von Cambridge. Es war ein hallender großer Raum, der völlig überfüllt war. Jasper sprach noch lauter als sonst, um die Konkurrenz zu übertönen.
„Du stalkst also Polina. Die Exfreundin deines Freundes. Pervers!“
„Nein! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden gestalkt!“, brüllte Wera zurück. „Jetzt bin ich enttäuscht.“„Was?“, fragte Wera. Sie hatte sich Jamie Olivers Restaurant als etwas Elegantes vorgestellt. Tatsächlich erinnerte der große Speisesaal an einen Bahnhof, in dem selbst eine dröhnende amerikanische Stimme wie Jaspers übertönt wurde. Noch enttäuschender als die Akustik war das Essen. Wera hatte das Spezialgericht bestellt - laut Speisekarte handelte es sich um das Lieblingsgericht von Jamie Olivers Ehefrau Jules. Wera war kein Restaurantkritiker, aber selbst sie konnte erkennen, dass diese Nudeln arrabiata auf keinen Fall elf Pfund wert waren. Jules Oliver musste ein sehr langweiliges Leben führen, wenn sie ernsthaft glaubte, dieses Gericht sei „ein großes Abenteuer“.
Wera machte einen Anlauf, um noch mal zu Jasper durchzudringen.
„Es war Zufall. Ich war in der Pall Mall, und dann . . .“
„Was machst du in der Pall Mall?“, schrie Jasper.
„Da sind all diese Clubs und auch der, in dem Burgess und Maclean Mitglieder waren und .“„Bist du reingegangen?“„Nein, die hätten mich doch nicht reingelassen.“
„Du machst also die ganze Fahrt nach London zu dem Club, aber gehst nicht rein . . . Macht Sinn.“
„Ich wollte eigentlich ins Archiv. Wie auch immer. Auf dem Rückweg bin ich an einem Restaurant in der Lower Regent Street vorbeigekommen, und da war Polina mit diesen Leuten.“„Mit was?“„LEUTEN“, brüllte Wera. „Was für Leuten?“Einen kurzen Moment lang war es ruhiger im Restaurant geworden, und Wera sagte in normaler Lautstärke:
„Einer Frau und einem Mann, ich konnte die nicht genauer sehen, sie hatten mir den Rücken zugedreht. Aber die ganze Situation sah merkwürdig aus.“
„Wieso soll sie nicht in einem Londoner Restaurant sitzen?“
„Weil sie doch die ganze Zeit in Cambridge arbeitet und nie nach London fährt.“
„Vielleicht hatte sie einen freien Tag und hat einen neuen Freund, der in London lebt?“
Wera musste jetzt wieder schreien: „Nein, es waren ältere Leute.“
„Wieso ältere Leute, ich dachte, du hast nur ihre Rücken gesehen?“
„Ihre Kleidung war nicht jung. Die Frau hatte sogar einen Hut auf.“
„Das könnten Eltern sein, die sie als Kindermädchen einstellen wollen, hast du daran mal gedacht?“„Nein.“„Es ist das Naheliegendste. Sie will ihre Gastfamilie abstoßen und trifft sich heimlich für ein Vorstellungsgespräch mit den neuen. Es ist doch sicher viel lukrativer, für reiche Londoner zu arbeiten, als für diese verarmten Cambridgeakademiker. In London könnte sie vielleicht in so einer Villa in Kensington oder Notting Hill leben und das Dreifache verdienen.“
„Aber solche reichen Leute würden sie doch sicher in einer Agentur treffen. Oder bei sich zu Hause, um sie den Kindern vorzustellen?“